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Regine Dehnel "Deutsche Kriegsgefangene im Gebiet Wologda 1942-1949" (Teil 2)
04.06.2013, 13:30

Inhalt

Arbeit im Lager

Tod und Überleben im Lager


Arbeit im Lager

Die Genfer Konvention war der Haager Landkriegsordnung darin gefolgt, daß Kriegsgefangene zu Arbeiten herangezogen werden durften. Ursprünglich war die Arbeit von Kriegsgefangenen unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung für deren Gesundheitszustand gesehen worden. Hinzu kam bereits im l. Weltkrieg die Bedeutung der Kriegsgefangenenarbeit für die Wirtschaft der Gewahrsamsmacht. Die Kriegsgefangenen sollten möglichst in der Landwirtschaft, bei häuslichen Diensten, in den künstlerischen und handwerklichen Bereichen, nicht jedoch in kriegswichtiger Industrie eingesetzt werden. Arbeitsnormen sollten denen für die Zivilbevölkerung vergleichbar sein. Bei der Genfer Konvention fällt generell die eingeforderte Inbezugsetzung sämtlicher Festlegungen für Kriegsgefangene zu der jeweiligen Situation der Zivilbevölkerung im Lande auf. Dies betrifft den Arbeitseinsatz ebenso wie den Transport, die Unterbringung, Verpflegung oder Kleidung von Kriegsgefangenen.

Mit dem Aufenthalt in den Kriegsgefangenenlagern von Wologda war für die deutschen Kriegsgefangenen in der Regel der Arbeitseinsatz verbunden. Wurde zunächst auch zehn und mehr Stunden einschließlich des Sonntags gearbeitet, so setzte sich allmählich der Achtstundentag durch. Einzelne Sonn- und Feiertage blieben arbeitsfrei. Anmarschwege zur oft außerhalb der Lagergrenzen befindlichen Arbeitsstelle, der mehrere Stunden dauern konnte, kamen zu der eigentlichen Arbeitszeit allerdings hinzu.

Die Einsätze zur Arbeit erfolgten meist in Brigaden, wobei eine Brigade 10, 20 oder 30 Mann umfaßte. Das Brigadesystem machte die Abrechnung der Arbeitsergebnisse überschaubarer. Es vereinfachte auch das obligatorische Zahlen der Kriegsgefangenen bei Abmarsch zur und Rückkehr von der Arbeit. Gearbeitet wurde nach einer festgesetzten Norm.

Achtstundenarbeitstag, Brigadeeinsatz und Normarbeit entsprachen der in der UdSSR üblichen Arbeitsorganisation. Auch die Benennung eines Brigadiers, der für den geregelten Ablauf des Arbeitsprozesses, die Tagesabrechnung und die Normerfüllung verantwortlich zeichnete, war aus der zivilen Arbeitspraxis auf die Arbeit der Kriegsgefangenen übertragen worden.

Quelle: Die Kriegsgefangenen in der Sowjetunion. Arbeit. [Maschinenschrift]

Eingesetzt wurden die Gefangenen im Gebiet Wologda für Arbeiten zur Ausbesserung oder zum Ausbau der Lager, sowie zu deren Selbstversorgung. So mußten Unmengen von Holz herangeschafft werden, da dieses nicht nur als Baumaterial, sondern vor allem auch als Heizmaterial diente. Im Zusammenhang mit der Selbstversorgung der Lager bildeten sich Spezialistengruppen heraus - Schneider, Schuster, Wäscher, Schlosser, die in Werkstätten innerhalb der Lager oder auch vor den Lagertoren arbeiteten. Die Arbeitsbedingungen für diese gestalteten sich oft entschieden erträglicher, als für jene, welche zum Holzeinschlag oder Straßenbau ausrücken mußten.

Neben die Arbeit der Kriegsgefangenen für die Selbstversorgung ihrer Lager trat die Arbeit in verschiedenen Wirtschaftszweigen der oft fast völlig zerstörten sowjetischen Kriegs- und Nachkriegswirtschaft. Auch im Gebiet Wologda haben sich einzelne Gebäude und Gebäudekomplexe, aber auch Teile grösserer Industrieanlagen erhalten, die von deutschen Kriegsgefangenen erbaut oder miterrichtet wurden.

"Bau-, Straßenbau- und andere Unternehmen schlossen mit der Administration der Lager gern Verträge zur Nutzung billiger Arbeitskräfte ab. [...] In Wologda errichteten sie das erste fünfetagige Steingebäude in der Nähe der Leinenfabrik, sowie einige Gebäude in der Nähe der Uferstraße. Deutsche bauten auch die ersten Kilometer der Autobahn Wologda-Jaroslawl.

Die ehemaligen Soldaten der Wehrmacht arbeiteten auch in Industriebetrieben: im Papierkombinat in Sokol, im Betrieb "Roter Stern" in Tscherepowez, im Glaswerk in Tschagoda und anderswo.[...]

... eine nicht geringe Rolle spielten die Deutschen beim Aufbau des Metallurgischen Betriebes von Tscherepowez. [Es handelt sich um eines der bedeutendsten Zentren der ehemaligen sowjetischen Schwarzmetallurgie.] Am 1. Februar 1949 unterschrieb J. W. Stalin persönlich eine Geheimanweisung des Ministerrates der UdSSR mit der Nummer 1167, welche das Lager 437 verpflichtete, für den Bau des Betriebes täglich 1.500 Gefangene zur Verfügung zu stellen."

W. B. Konasow/W.W. Sudakow. ebenda. S.71 f.

Die Arbeitsgebiete, in denen deutsche Kriegsgefangene eingesetzt wurden, ähnelten in vielem den Arbeitsgebieten, in denen tausende sowjetische Repressierte des Stalinschen Systems eingesetzt wurden. Dort waren oft körperlich äußerst anstrengende Arbeiten unter schwierigsten klimatischen Bedingungen, mit völlig unzulanglichen Arbeitsgeräten zu verrichten. So waren Kriegsgefangene aus Lagern des Gebietes Wologda wie Bewohner sowjetischer Gulags am Ausbau des Wolgo-Balt-Kanals beteiligt, eines riesigen Wassersystems, welches uber die Wolga die Verbindung zwischen Ostsee, Weißem, Kaspischen, Schwarzen und Asowschen Meer herstellt. Beide arbeiteten an der Errichtung riesiger Stauseen für Kraftwerke, legten Wege und Schienen in bis dahin unerschlossene Gebiete. Erst mit der von Gorbatschow eingeleiteten Politik der Öffnung erfuhr die sowjetische Öffentlichkeit davon, daß diese Jahrhundertbauten nicht nur von enthusiastischen Jugendbrigaden, Pionieren und Neuerern sondern auch von sowjetischen Opfern des Stalinschen Repressionssystems errichtet wurden. Allmählich spricht man nun auch von der Beteiligung deutscher Kriegsgefangener an solchen Bauten.

Eingesetzt wurden die Kriegsgefangenen je nach Gesundheitszustand. Monatlich fand dazu eine Kommissionierung statt, bei der die Gefangenen in die Arbeitsgruppen I, II, III, OK oder Dystrophie eingeteilt wurden. Letztere, im Zustand völliger Ausmergelung und Erschöpfung, mußten nicht zur Arbeit ausrücken. OK wurde bei Arbeitskräftemangel jedoch eingesetzt. Von der Gruppe I bis zur Gruppe III nahm die Schwere der zu leistenden Arbeit ab.

Wichtig bei der Arbeit war die Normerfüllung. Von dieser war die Essenszuteilung abhängig. Erreichte man in der Brigade mehr als 100%, gab es etwas mehr zu essen. Allerdings barg eine hohe Normerfüllung die Gefahr, daß diese höher gesetzt wurde.

Offenbar gab es für die Gefangenen bei Außenarbeiten manchmal die Möglichkeit, die formale Normerfüllung zu manipulieren, indem man den sowjetischen Vorarbeiter [Natschalnik] für diese Manipulation gewann. Auch hatte man bei Außenarbeiten hin und wieder die Chance, sich ein paar Kartoffeln, Kraut oder auch kleine Mengen Kohlen zu besorgen und ins Lager zu schmuggeln.

"Im Lager Wologda gab es bei 130% Normerfüllung 300 Gramm Zusatzbrot und die hatten wir fast immer. Hauptsächlich beim Eisenbahn-Kommando sagten wir dem Natschalnik, wir brauchten ein Dokument mit 130% Normerfüllung. So gab es im Lager die 300 Gramm Zusatzbrot." H.G.

"Wenn wir mit der Arbeit fertig waren, konnten wir uns in der Schmiede aufwärmen. Bewacht wurden wir nicht. Abends brachten uns die LKWs wieder zum Lager, wo wir heimlich in kleinen Säcken Kohle mitnahmen, um unsere Unterkunft zu heizen. In der Mitte des Raumes hatten wir ein Teefaß stehen, das wir mit der mitgebrachten Kohle heizten. Auch für unsere Lagerküche brachten welche Kohle mit und bekamen dafür einen Extra-Schlag Suppe." H.G.

Normmanipulationen wie auch "Umverteilungen", eigentlich Diebstahl gesellschaftlichen Besitzes, die freilich sehr vorsichtig bewerkstelligt werden mußten, gehörten gerade in der schweren Nachkriegszeit zum gängigen Gebahren innerhalb der sowjetischen Wirtschaft. Sie garantierten manchem nicht nur außer- sondern auch innerhalb der Lager das Überleben.

Das riesige geistige Potential, welches in den Lagern, insbesondere den Offizierslagern angesammelt war, wurde durch den primären Einsatz der Kriegsgefangenen zu körperlich schwerer Arbeit für die sowjetische Wirtschaft kaum genutzt. Am ehesten wirkte es noch im Rahmen der Selbstversorgung der Lager und der kulturellen Aktivitäten der Kriegsgefangenen.

"In diesem Lager [Petschatkino] mußten wir die angefloßten Baumstamme an Land bringen und stapeln. Da noch Krieg war, war die Verpflegung sehr gering. Dann kam der Winter mit 40 Minus, der Hunger war groß, aber ich hatte überlebt! Ich glaube, daß es 1945 im Frühjahr war, als ich ins Lager Sokol kam, eine Papierfabrik. [...] Endlich hatte ich in diesem Lager mal etwas Glück. Da ich einen Metallberuf erlernt hatte und Spezialisten immer gesucht wurden, war meine Zeit gekommen. In der Werkstatt konnte ich leichter meine Norm erfüllen. Auch hatte ich Zeit, für die Bevölkerung Dinge für den täglichen Gebrauch herzustellen, die durch russische Arbeiter weitergegeben wurden. So konnten wir Kartoffeln, Brot, Tabak etc. dagegen tauschen oder kaufen." H.F.

"Vom 11.9.1945 bis 23.2.1948 in Wologda, Arbeitslager 158/6. Dieses Arbeitslager war mit etwa 200 Gefangenen besetzt. Wir arbeiteten in der Stadt Wologda. Es waren etwa 5 Kilometer bis zur Stadt. Kleine Kommandos von 10 bis 20 Mann gingen dorthin. Der Rest wurde mit 2 LKWs zum Kommando Eisenbahn abgeholt. Das war ein großes Reparaturgelände. Wir mußten dort Kohlewaggons ausladen und mit Schneeschaufeln die Gleise frei machen. Dann gab es das Kommando Elektrowerk, das Holz aus dem Fluß ziehen, dieses zersägen und Öfen heizen mußte. Außerdem gab es ein Kommando Stadion, ein Kommando Brotfabrik und ein Kommando Telefon." H.G.

"Dann war ich auch einmal mit im Stadion, in dem die Russen Eishockey spielten. Es waren viele russische Zuschauer da und eine Blaskapelle. Dieses Stadionkommando, zu dem ich zeitweise gehörte, bestand aus 10 Mann und mußte in den Spielpausen mit Schneeschiebern den Spielplatz frei schieben. In den Pausen konnten wir uns in den Unterkünften aufwärmen, doch es gab keine Öfen darin. Vom 30.4.1946 bis 20.11.1946 arbeitete ich mit 60 Mann im Außenkommando Ziegelei, etwa 16 Kilometer von Wologda entfernt. Dort war auch ein großer Kolchos. Ich war ständig als Arbeitsgruppe II oder III im Einsatz. Alle 14 Tage oder später war im Lager Gruppenuntersuchung, nach der man zur Arbeit eingeteilt wurde. Arbeitsgruppe I bekam schwere Arbeit, die Gruppen II und III leichte. Arbeitsgruppe OK und Dystrophie blieben im Lager. Bei 101% Normerfüllung gab es zusätzlich 200 Gramm Brot im Lager, bei 130% 300 Gramm. Das Lager 158/6 befand sich außerhalb von Wologda, auf einem früheren Fabrikgelände." H.G.

"In der Ziegelei arbeitete ich vom 30.4. bis 20.11.46. Wir waren vom Wologda-Lager mit 60 Mann dort. Die Norm betrug 8.000 Steine an einer kleinen Presse. In der Lehmgrube waren 2 bis 3 Mann und ein russischer Maschinist, der die Presse bediente. An der Presse arbeitete auch ein 16-jähriges Madchen. Ich war 21. Auf der Schubkarre lag ein flaches Brett mit 20 gepreßten Ziegelsteinen, die ich allein zur Trockenhalle fuhr, ca. 20-30 Meter weit. Dort stand wieder eine Russin, die die Karre ablud und die Preßlinge auf einem Brettergerüst zum Trocknen stapelte. [...] es gab auch eine große Presse, wo die Norm 16.000 Steine betrug. Die gepreßten Steine wurden von Gefangenen auf Lorenwagen gefahren. Leider entgleiste die Lore öfters." H.G.

"Im August kam ich dann mit anderen Gefangenen in ein Landlager, in welchem landwirtschaftliche Produkte erzeugt wurden (Erbsen, Kohl und Getreide). Von dort wurden wir auch auf Kolchosen vermittelt, um in der Ernte zu helfen. Wir blieben mit 10 Mann auf der Kolchose. Einer sorgte für das Essen und die anderen 9 Mann mußten die Arbeiten ausführen. [...] Als die Ernte vorbei war, kam ein Teil der Gefangenen in ein Arbeitslager, wo 5 Kilometer weiter eine Papierfabrik war. In dem Lager waren vorher russische Strafgefangene, und wir mußten das Lager für noch mehr Gefangene vorbereiten. Die Baracken mußten sauber gemacht, auch der Stacheldraht mußte ausgebessert werden. Im Lager waren 4 Baracken und eine Küchenbaracke mit einem Raum zum Essen. Die Fabrik, in welcher Papier hergestellt wurde, war 5 Kilometer vom Lager entfernt. Im Winter wurde die Fabrik mit Holz geheizt, welches wir im Wald fallen mußten. Die Norm für 2 Mann waren 2 Kubikmeter. Morgens ging es um 7.00 Uhr aus dem Lager, denn die Arbeit begann um 8.00 Uhr und endete um 16.00 Uhr. Um 17.00 Uhr war man wieder im Lager. Im Sommer wurde die Fabrik mit Torf geheizt. Für die Herstellung des Torfes waren drei Bagger eingesetzt. Einer davon war mit Gefangenen besetzt. Ein Teil der Gefangenen mußte in der Fabrik arbeiten, um die ganzen Vorbereitungen für die Herstellung des Papiers zu machen. Zum Beispiel wurden Flöße mit Holzstämmen auf dem Wasserwege angeliefert. Diese mußten auseinander gemacht und an Land gezogen werden. Die Stämme mußten dann auf ein bestimmtes Maß zersägt werden. [...] Überall nur Normarbeit, was dann zusätzlich eine Brotration ergab, um den Hunger zu stillen. Ich muß bemerken, es waren alles schwere Arbeiten und alle haben es nicht ausgehalten, diese Arbeiten zu verrichten." R. H.

"Ich war vom Januar 1946 bis zur Auflösung des Lagers im Oktober/ November 1949 in Tscherepowez und habe in der Kfz-Werkstatt gearbeitet. Von den 3 Jahren und 10 Monaten, die ich im Lager 7437 war, habe ich 3 Jahre und 7 1/2 Monate im gleichen Arbeitskommando arbeiten können. Das war ein großes Gluck und hat mir das Überleben gesichert. Ich habe oft erlebt, wie Arbeitskommandos aus den Lagern wie Sokol, Tschagoda und andere als abgearbeitete Dystrophiker in unser Lager zurück gebracht wurden.." P. J.

"Bezüglich der Lagererhaltung wurde Holz benötigt. Unsere Tischler und Stellmacher hatten über 20 belastbare Schlitten gefertigt. Bereits morgens gegen 3.00 Uhr rückten die Schlittenbesatzungen aus. Jeder Schlitten hatte einen Schlittenführer und 15 Mann Besatzung. Mit der heißen Kohlsuppe im Bauch und einem Stück Brot von 200 Gramm im Magen setzten sich die Schlittenfahrer in Bewegung. Nach drei Stunden durch die Tundra gelangten wir an einen Holzumschlagplatz. Hier hatten unsere Außenkommandos ein Depot errichtet. In Windeseile wurden die Schlitten beladen. Sportlicher Ehrgeiz war vorhanden, und so suchte eine Schlittenbesatzung die andere zu übertreffen, was die Ladung anbetraf. Als alle Schlitten beladen waren, ging es auf den Heimweg. Jeweils immer 8 Mann waren im Geschirr. Die anderen 8 stützten den Schlitten seitlich ab oder schoben den Schlitten, wenn es bergauf ging. [...] Geschlossen traf am Vormittag die Schlittenkolonne ein. 100 Raummeter wurden gestapelt und täglich kam die gleiche Menge dazu. Wenn auch ein gewisser Teil verbrannt wurde, so wuchs diese Halde täglich um ein Drittel. Das war auch wichtig, denn witterungsbedingt hatte mal eine Schlittenfahrt ausfallen können." H.H.

"Dort [Petschatkino] befand sich ein kleines Lager mit weniger als 600 Mann. Dort an der Suchona, einem Fluß größer und tiefer als der Rhein, wird Holz geflößt und als Zellulose verarbeitet. […] In drei Schichten flößten wir Holz, bugsierten es auf das Förderband, rissen die Stämme von dem 6 Meter hohen Fließband herunter, stapelten das geflößte Holz, zersägten es anschließend in 2 Meter lange Stücke und führten es der Papierfabrik zu, wo es in Kollergängen zerkleinert wurde. [...] Hier in Petschatkino fand die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen statt. Der Anmarschweg vom Lager zum Holzplatz war lang. Die Arbeit in Holzschuhen gefährlich, weil man leicht auf den glitschigen Stämmen ausrutschte und evtl. in die Motorsäge fiel. Mehrere Ungarn waren so bei lebendigem Leibe enthauptet und geteilt worden. Hatte man seine acht Stunden auf dem Holzplatz gearbeitet, lag man auf der Pritsche auf Abruf, denn sowie Holzwaggons ankamen, mußten wir raus an die Eisenbahnlinie und die Waggons entladen. Das mußte in zwei Stunden geschehen sein, weil sonst das Werk an die Staatsbahn Standgeld zahlen mußte." H. H.

"Dann gab es das Telefonkommando. Bei großer Kälte (20 Grad) mußten wir Bonbon-pflaster aufreißen. Wir hatten Glück, wenn wir zwei Steine los bekamen. Bewachung keine. So konnten wir uns in den Nachbarhäusern aufwärmen." H.G.

"Wir wurden morgens zur Arbeit eingeteilt. Zum Beispiel Brotfabrik (von der Fabrik selbst haben wir nichts gesehen). Uns holte eine Russin vom Lager ab, wo wir mit 10 Gefangenen am Straßenrand in Zweierreihe zu Fuß nach Wologda liefen. Wenn die Russin uns abholte, war es Pflicht, daß sie ein Gewehr dabei hatte. Wir waren gerade außer Sichtweite vom Lager, da gab sie das verrostete Gewehr einem von unseren Gefangenen zum tragen. Sie lief auf dem Bürgersteig. Sie brachte uns zum Arbeitsplatz am Fluß. Dort mußten wir 2 Meter lange Holzstämme mit Drahtschlaufen aus dem Wasser ziehen und es auf dem Ufer aufstapeln. Bewacht wurden wir nicht. Abends brachte sie uns wieder zum Lager. So war es auch mit anderen Kommandos. Man konnte sich am Arbeitsplatz frei bewegen." H.G.

"Wologda war für mich das beste Arbeitslager, weil wir uns auf den Arbeitsstellen frei bewegen konnten. Flüchten war sinnlos und wohin?" H.G.

"Am 30. Januar 1949 verlegte man mich ins Waldlager Tschaika. Der Transport erfolgte auf einem offenen LKW. Das Lager Tschaika lag an einem Nebenfluß der Scheksna, von wo das im Sommer geschlagene Holz nach Sokol und Tscherepowez geflößt wurde. Im Winter wurden die Baumstämme auf dem zugefrorenen Fluß gelagert und mit der Schneeschmelze geflößt. [...] Es war ein offenes Lager, nach der Arbeit war es möglich, mit der Bevölkerung Kontakt aufzunehmen, Die Gebrauchsgegenstände, die ich anfertigte, konnte ich verkaufen oder gegen etwas anderes tauschen. Ringe, die ich aus Fünfkopekenstücken herstellte, waren besonders begehrt. Nach einer gewissen Behandlung sahen sie aus, als ob sie aus echtem Gold waren. Im September 1949 wurde das Lager aufgelöst und der "Rest" nach Tscherepowez per Schiff gebracht." H.F.

Tod und Überleben im Lager

Da die Kriegsgefangenenlager dazu dienten, die Arbeitskraft der deutschen Gefangenen für den Wiederaufbau der zerstörten sowjetischen Wirtschaft maximal zu nutzen, waren die Lagerbedingungen hinsichtlich Unterbringung, Verpflegung und Arbeit entsprechend hart und für viele nicht zu ertragen. Insbesondere in den Frühphasen der einzelnen Lager gab es hohe Menschenverluste durch Entkräftung in Form von Dystrophie, durch Arbeitsunfälle und Seuchen.

Im Herbst 1941/Winter 1942 mußten die Bewohner des Gebietes Wologda insbesondere unter den aus Leningrad Evakuierten ein Massensterben mit ansehen. Viele Leningrader hatten nach -zig Wochen und Monaten der Blockade und des Hungers nicht mehr genug Kraft, um den Weg von Leningrad bis ins Gebiet Wologda zu überstehen. Tot wurden sie aus den Zügen geborgen. Augenzeugen aus dieser Zeit erinnern sich:

"Die Leichen wurden in einem kalten Raum in der Nähe des Bahnhofs gelagert. Nachts brachte man sie weg und begrub sie auf dem Soldatenfriedhof. Soldaten sprengten dafür die Erde auf."

Allein zwischen 1.1. und 15.7.1942 mußten 9.383 der Evakuierten aus Leningrad wegen Dystrophie 2. und 3. Grades, den entsprechenden Begleiterkrankungen des Magen-Darm-Bereichs und Ödemen oder Erfrierungen in Krankenhäuser des Gebietes Wologda eingewiesen werden. In 6 Hospitälern und 2 Krankenhäusern starben in dieser Zeit an oben beschriebenen Erkrankungen 1.928 Menschen. Insgesamt kostete die 900-tägige Belagerung von Leningrad ca., 1.300.000 Einwohnern der Stadt das Leben. Die Mehrzahl von ihnen verhungerte.

Requiem für die in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges evakuierten, im Gebiet Wologda beigesetzten Bewohner Leningrads. Hrsg. von W.W. Sudakow. Wologda. 1990. Bd. l. S.U.

Eine grausame Welle von Hunger und Tod traf auch die Kriegsgefangenenlager von Beginn ihrer Existenz an. Dabei hatten sich die Kriegsgefangenen selbst um das Begräbnis ihrer Leidensgenossen zu kümmern. Aus damaliger wie aus heutiger Perspektive Grauenvolles mußten dabei Beteiligte oder zufällige Zeugen erleben.

"Da die Werkstatt vorm Lagertor außerhalb des Lagers war, haben wir natürlich manches gesehen, was dem großten Teil der Lagerbelegschaft verborgen blieb, so z. B. wenn die steifgefrorenen Toten auf Schlitten notdürftig mit einer zu kurzen Plane abgedeckt aus dem Lager transportiert wurden." P.J.

"Die ersten Kameraden in Rybinsk erzählen, die Sterblichkeit sei in der ersten Zeit so groß gewesen, daß man im Winter Löcher ins Eis der Scheksna geschlagen und die Leichen hineingeworfen hätte." K.B.

"Uns führte eine Lagerordonnanz zum Leichenbunker. Dort stand ein Schlitten. Neben dem Schlitten lag eine hohe, schmale Kiste. Diese Kiste stellten wir auf den unhandlichen Schlitten. Nun bekamen wir den Auftrag, die Kiste mit Leichen zu beladen. [...] Mit 7 bis 8 Leichen war der Kasten gefüllt. Im Mannschaftszug zogen wir in den frühen Nachmittagsstunden den Schlitten vor das Lagertor. [...] Die Nummern auf den Fußsohlen der Toten wurden wiederholt und dann setzt sich der traurige Leichenzug in Bewegung. [...] Zwischenzeitlich war die Kälte auf 30 bis 35 Grad abgesunken. Auf dem Schlitten lagen ein Spaten und eine Brechstange. [...] Wir steckten ein Quadrat ab und fingen an, mit der Brechstange das Erdreich aufzugraben. [...] Wahrend zwei Mann versuchten, mit Spaten und Brechstange eine Grube zu formen, stürzte der Rest langsam die lange Leichenkiste um. [...] Die Grube war nun so tief, daß wir die Leichen nebeneinander bestatten konnten." H.H.

"Ich habe es erlebt, wie ein Transport mit Kriegsgefangenen aus den Kohlegruben des Ural in unser Lager kam. Man brachte sie gleich in die Krankenbaracke, wo bereits 200 Mann lagen. Die Hälfte hatte Ruhr. Einen Tag war ich dabei, als die Toten beerdigt wurden. Wenn im Lager 50 bis 60 gestorben waren, wurden sie in einem Bretterverschlag gestapelt und bei der Dunkelheit nackt auf einen Schlitten geladen, so daß Beine und Arme im Schnee schleiften.. Jeder Schlitten wurde von 10 Gefangenen gezogen und von zwei geschoben. Und das in der Nacht, bei Mondschein und 15-20 Grad Kälte. Wir mußten den Leichentransport durch ein Dorf machen, aber ziemlich geräuschlos, damit die Bewohner nicht wach wurden. Vorher hatten Gefangene bereits Massengräber für jeweils 50 bis 60 Leichen ausgehoben. Von diesen Toten weiß keiner etwas, da sie nicht registriert waren. Sie gelten somit als vermißt. Denn unsere Personalien wurden erst kurz vor dem Kriegsende im März/April 1945 im Erholungslager 7437 aufgenommen. Am Tage brauchte das Toten-Kommando nicht zu arbeiten und konnte sich für die nächtlichen Bestattungen ausschlafen." H.G.

Auf Anfrage an den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. teilte dieser am 13.1.1995 mit:

"Im Raum Wologda gab es das Kriegsgefangenenlager Nr. 7158, das ca. 15 Nebenlager und ein Hospital hatte. Bereits 1991 wurden wir vom Gebietskomitee Wologda informiert, da die meisten Kriegsgefangenenfriedhöfe und Begräbnisstellen der ca. 5.000 deutschen Kriegstoten zumindest flachenmäßig zu lokalisieren seien. [...] In Grjasowez gibt es den Kriegsgefangenenfriedhof des Lagers 7150, auf dem 140 Soldaten ruhen sollen."

Die Historiker Konasow und Sudakow aus Wologda, die sich seit Jahren mit der Frage der deutschen Kriegsgefangenen beschäftigen und die Herausgabe eines namentlichen Gedenkbuches für die toten deutschen Kriegsgefangenen im Gebiet Wologda planen, sprechen ebenfalls von 5.000 bis 6.000 Toten.

In Erinnerungen ehemaliger Gefangener des Gebietes Wologda werden allerdings auch ganz andere Zahlen genannt.

"Es sprach sich herum, daß man dort [im Lager 150] nicht ganz so leicht verhungerte, nicht mißhandelt wurde oder ansteckenden Krankheiten ausgesetzt war wie anderswo. Unser Friedhof bewies es. Bei uns lagen, als ich fortkam, etwa 135 Kameraden begraben. Aber auf den Lagerfriedhöfen von Sokol und Tscherepowez liegen je 20.000 bis 30.000 Gefangene."

Auch wenn die letztgenannten Zahlen überhöht sein mögen, so wird die Wahrheit wohl zwischen erst- und letztgenannten Zahlen liegen. Die größen Differenzen erklären sich offenbar aus eben jenem Umstand, daß die Gefangenen erst spät, erst im Jahre 1945 registriert wurden, daß so ungezählte Gefangene unregistriert und damit für die Nachwelt unkontrollierbar starben.

Liste der von Konasow und Sudakow für das Gebiet Wologda angeführten Hospitäler, welche deutsche Kriegsgefangene versorgten:

  • Spezhospital N 5091. Es befand sich in Tscherepowez, arbeitete ab Oktober 1944 als Spezhospital und besaß einen eigenen Friedhof. 1948 wurde es aufgelöst.
  • Spezhospital N 3739. Es befand sich zunächst in Wologda, später in Tscherepowez. In Wologda besaß es einen eigenen Friedhof.
  • Spezhospital N 3731. Es befand sich in Woschega, besaß einen eigenen Friedhof.
  • Spezhospital N 2715. Es befand sich in der Siedlung Tschagoda und besaß einen eigenen Friedhof.
  • Spezhospital N 1825. Es befand sich in Tscherepowez.
  • Spezhospital N 3337. Es befand sich in Babajewo, besaß einen eigenen Friedhof.

Wenngleich unzählige Gefangene auch im Gebiet Wologda die Gefangenschaft nicht überlebt haben, so versuchten doch insbesondere Ärzte und Krankenschwestern alles, um den Gefangenen ihre Gesundheit zu bewahren oder wieder zu geben. Dabei war für die sowjetische Lagerleitung und übergeordnete Gremien natürlich die Erhaltung der Arbeitkraft das entscheidende. Humanitäre Überlegungen dürften aber nicht nur für deutsche wie sowjetische Ärzte und Krankenschwestern sondern auch für manchen Angehörigen der sowjetischen Lagerleitung eine wichtige Rolle gespielt haben. Insbesondere das Lager 437 7437, welches als OK-Lager angelegt worden war, hatte die Aufgabe, Kranke und Geschwächte wieder soweit auf die Beine zu bringen, daß sie erneut arbeitsfähig waren. Es gab in diesem Lager vier Lazaretts.

  • Lazarett 1 für komplizierte chirurgische und innere Fälle
  • Lazarett 2 für schwerwiegende Erholungsfälle
  • Lazarett 3 für Magen-Darm-Infektionen
  • Lazarett 4 für sonstige Seuchenfälle

In diesen Lazaretts arbeiteten sowohl sowjetische als auch deutsche Ärzte. Das Pflegepersonal bestand aus sowjetischen Krankenschwestern und deutschen Kriegsgefangenen. Die Lazarettleitung hatten dabei sowjetische Ärzte inne. Von ihnen ausgesuchte oder ihnen empfohlene Ärzte, die sich unter den Kriegsgefangenen befanden, assistierten ihnen. Neben den Lagerlazaretten in Tscherepowez 7437 gab es auch in anderen Lagern Lagerarzte. Zudem waren 1944 drei Hospitaler in Tscherepowez, Babajewo und Woschega, die bis dahin die einheimische Bevölkerung versorgt hatten, zur medizinischen Versorgung von Kriegsgefangenen übergegangen. Weitere Hospitäler kamen hinzu. Gemischte Gefühle bei dem sowjetischen medizinischen Personal wichen dabei in der Regel der Treue zum Berufsethos.

Die Versorgung in den Lazaretten war trotz aller Probleme bei der Medikamentenlage, der Bettenbelegung, der Ernährungssituation prinzipiell besser als anderswo. So empfand mancher den Lazarettaufenthalt, der ihn einmal aus dem Einerlei und der Anstrengung des Lageralltags herausbrachte, als Glück.

"Soweit habe ich alles gesundheitlich überstanden. War nur 10 Tage im Lagerkrankenrevier, wo mir am linken Fuß wildes Fleisch am großen Zeh wegoperiert wurde. Das war im Frühjahr 1946-1947. [...] Für mich waren die 10 Tage Krankenrevier eine Erholung, weil ich jeden Tag zur Arbeit heraus mußte. Nur bei sehr schlechtem Wetter war arbeitsfrei. 1947 brauchte die Arbeitsgruppe III nur vier Stunden zu arbeiten, jedoch die Arbeitsgruppe I acht Stunden. Wir mußten solange warten, um zusammen wieder ins Lager zu kommen." H.G.

"Ja, ich war dort [in Wologda] wegen einer Erfrierung in einem Hospital. Es soll wohl früher in der Zarenzeit eine Eisenbahnerschule gewesen sein. Es war ein festes Gebäude und wenn ich mich nicht irre gar mit Wasserklo. Dort lernte ich auch von spanischen Kriegsgefangenen das Schachspielen. […] Ich glaube, hier gabs auch Bettwäsche und Zentralheizung, aber auch gefrorene und verfaulte Kartoffeln, die trotzdem bestens schmeckten. Auch Kakaobutter lernte ich hier kennen. Wir bekamen hier auch mal Tabak, Feinschnitt, auch amerikanischer Herkunft. Das war wohl die "schönste Zeit", die ich als Kriegsgefangener erleben durfte." E.

"Die russischen Ärzte hatten keine Medikamente dagegen [gegen Durchfall]. Sie behandelten uns aber durch die Reihe weg gut. Ausnahmen gab es bei Simulanten und bei den monatlichen Arbeitsgruppenuntersuchungen. Oft bemühten sich die Krankenschwestern mehr um ihre Patienten als die Ärzte, denen oft deutsche zur Seite standen." K.B.

Insbesondere für die alteren Kriegsgefangenen, die Familie, Frau und Kinder zuhause hatten, aber in völliger Ungewißheit über deren Schicksal waren, waren die Belastungen der Kriegsgefangenschaft oft unerträglich. Bedeutsam wurde in diesem Zusammenhang, daß es ab 1945 durch das Rote Kreuz für die Kriegsgefangenen in der Sowjetunion erstmals die Möglichkeit gab, nach hause zu schreiben und von zuhause Post zu erhalten. So erhielten Gefangene als Weihnachtsüberraschung am 25.12.1945 im Stadtlazarett von Wologda eine Rot-Kreuz-Karte, die sie abschicken durften.

"Vor Freude darüber weinten wir. Ein schriftgewandter Kamerad schrieb einen genormten Text. Nur in der Anschrift - z. B. 'Liebe Frau' o.a. wurde er geändert. Und die Unterschrift setzte jeder selbst darunter.

Dazu ergänzend, mir ging es gar nicht gut, denn ich hatte eine Nierenbeckenentzündung. Aber wir wollten unsere Angehörigen nicht beängstigen. Außerdem wußten wir nicht, wie die Zensur ausfiel." K.B.

Die Post der Kriegsgefangenen unterlag einer Zensur durch die sowjetische Gewahrsamsmacht. Es gab auch genaue Vorgaben, wieviel und wie geschrieben werden durfte. In Druckschrift, und 14 Zeilen.
So wurde vieles gar nicht mitgeteilt. Man beschränkte sich offenbar auf unverfängliche, uns heute fast belanglos erscheinende Mitteilungen, auf wechselseitiges freundliches Nachfragen nach allgemeinem Befinden und Gesundheit.

"Einige Kameraden durften nicht schreiben, d.h. sie erhielten erst gar keine DRK-Karten. Folglich schrieb ich an meine Mutter: "Viele Größe an Familie X in der Y-Straße vom Willi!" Dann ging meine Mutter mit meiner Karte zu den Leuten, die somit wußten, daß der verschollene Willi mit mir im Lager war." K.B.

Zum Charakter der Kriegsgefangenenlager, insbesondere der Offizierslager im Gebiet Wologda gehörte, daß sich allmählich, mit einer gewissen Stabilisierung des Lagerlebens, ein überraschend intensives kulturelles und geistiges Klima entfaltete. In den Lagern 7437 in Tscherepowez und 7150 in Griasowez nahm dieses Leben solche Formen an, daß manche später Vergleiche zu Universitäten zogen.

"Das Lager Grjasowez war ein Offizierslager, hauptsächlich Stabsoffiziere waren da. Im Vergleich mit anderen Lagern war die Verpflegung sehr gut. Es wurde hier allerlei geboten, fast wie an einer Universität." H.F.

"Zweifelsfrei: wo ständig mehr als 6.000 Menschen zusammenleben, deren Mehrzahl die Schule mit dem Abitur abgeschlossen hat, während ein erheblicher Anteil eine weiterführende (z.B. akademische) Ausbildung genossen hat, finden sich viele, die ihren Mitgefangenen als Fachleute auf irgendeinem Gebiet etwas mitzuteilen haben. Bekannte Professoren "lesen" über Meteorologie, klassische Musik und Literatur, Schauspieler und Schriftsteller tragen vor, Praktiker erteilen Fremdsprachenunterricht, Gartenfreunde und Imker bereiten ihre in Idyllen sinnenden Mitgefangenen auf ein friedfertiges neues Leben der Zukunft vor." F.M.

"Abends, wenn in den Baracken (Tische gab es ja nicht, also legte man sich lang) nur noch vereinzelte Kienspäne flackerten, kam das Kulturprogramm mit Nostalgie (Bienenzüchter, Gartenfreunde pp.) oder Märchen (es gab Gedächtniskünstler, die ganze Karl-May-Bände - wie es schien - erzählen konnten). Dazu [...] Seminare in Russisch, Englisch, Buchführung, einer Art Betriebswirtschaft, Meteorologie, Geografie und Umerziehung." F.M.

Das Bildungsprogramm wurde durch breite vor allem musikalische und schauspielerische Aktivitäten ergänzt. Allein im Lager 7437 in Tscherepowez gab es ein 28-köpfiges Orchester, das jeden Sonntag ein Konzert gab, einen 100 Mann starken Lagerchor unter Leitung Hans Borghoffs und einen kleinen Kammerchor. Auch in anderen Lagern und Lagerabteilungen entstanden Chöre oder kleine Theatergruppen. "Auch wurde im Lager eine Musikkapelle zusammengestellt und eine Theatergruppe. Die Musikkapelle probte dann abends öfter und es gab Musikaufführungen. Die Theatergruppe übte auch Sketche ein, die dann aufgeführt wurden." R.H.

Verständlich, daß die Bildungsaktivitäten wie auch daß Kulturleben, da sie letztendlich auf Zustimmung der sowjetischen Lagerleitung angewiesen waren, von dieser partiell beeinflußt und für ihre Anliegen genutzt wurden. Die psychische wie moralische Bedeutung der kulturellen und Bildungsveranstaltungen dürfte für den einzelnen Gefangenen dadurch aber nicht geschmälert worden sein. Sie haben in umfangreichen Artikeln und Beiträgen später ihre Reflexion gefunden. [Wolfgang Stumme. "Die Musik in der Kriegsgefangenschaff. Vor zwanzig Jahren." Heinz Schwitzke. "Evangelium der Gefangenen"] In der Zeit der Gefangenschaft halfen sie den Gefangenen offenbar, nicht völlig abzustumpfen, Hoffnung zu bewahren, sich geistig beweglich zu halten. Für jene, welche von der Muse begünstigt, ein Instrument zu spielen verstanden, über schauspielerische Talente verfügten, vor dem Krieg oder der Einberufung einer künstlerischen oder akademischen Arbeit nachgegangen waren, erleichterten diese Talente moralisch wie auch materiell ein wenig das Leben.

Dabei wurde zunächst in hohem Maße improvisiert um beispielsweise einzelne Instrumente herzustellen. Mit Unterstützung durch die sowjetische Lagerleitung gestaltete sich dann manches auch einfacher, wurden Instrumente nicht mehr aus dem Blech amerikanischer Schmalzfleischdosen hergestellt, sondern in Moskau bestellt. Noten und Texte für Chor, Orchester und Theater wurden zunächst erinnert. So sang der Chor russische und deutsche Volkslieder, aber auch Verdi und Wagner. Später entstanden auch direkt im Lager einzelne neue Werke. Manchmal gab es wohl auch Auftritte der Musiker und Schauspieler außerhalb der Lager vor sowjetischem Publikum sowie "Tourneen" der Chöre und Orchester durch die Lager des Gebietes. Entsprechend der Verquickung der selbstorganisierten Bildungs- und Kulturarbeit mit den ideologischen Anliegen der sowjetischen Lagerleitung gestaltete sich das Veranstaltungswesen und deren Besuch in Lagern wie 7437 etwa so:

  • "Barackenprogramm (Nachrichtenverlesen und -kommentieren durch Politbetreuer) und abendliches Unterhaltungs Programm. An diesen Veranstaltungen nahm man teil, ob man wollte oder nicht.
  • Lehrveranstaltungen suchte man zu gleich mit anderen an einem dritten Ort auf.
  • Große zentrale Unterhaltungsveranstaltungen." F.M.

"Das Lager Grjasowez war ein reines Stabsoffizierslager, d.h. vom Rang eines Majors bis zum Oberst, auch viele Hochschullehrer. Da ein Stabsoffizier nicht arbeiten mußte, also nur im Lager blieb, sie hatten dazu auch noch eine bessere Verpflegung, waren diese Kurssysteme eine Beschäftigung und der Geist wurde angeregt. Die einzelnen Kurse waren angeschlagen, wer und was man hören wollte, ging hin. Es war alles auf freiwilliger Basis." H.F.

"Fast jedes Lager hatte eine Kulturgruppe, mit Genehmigung der Russen. Die waren sogar davon begeistert und unterstützten die Künstler. Der Zugang zu den Konzerten war jedem freigestellt. Und die Künstler folglich von der Arbeit. Sie waren eine eigene Schar, wie z.B.das Küchenpersonal, Schneider usw., hatten eigene Unterknfte, außer dem Chor. An politischen Schulungen sollten wir teilnehmen. Wenn niemand dahin ging, kamen die Politruks [Politische Betreuer] in die Unterkünfte und spulten ihre Sprüche ab. Viele Kameraden bekamen dann plötzlich Durchfall und verließen den Raum." K.B.

"In unserer Freizeit konnten wir machen, was wir wollten, z.B. hatte ich zwei gute Bekannte aus Dortmund in Petschatkino, mit denen wir uns über Politik unterhielten. Offen und ehrlich. Kam ein Fremder hinzu, wechselten wir das Thema." K.B.

Nicht ganz unwesentlich für das trotz hoher Sterblichkeit mögliche Überleben vieler Gefangener dürfte neben Glücksumständen, Zufällen und dem unterschiedlichen Erfolg individueller Überlebensstrategien das konkrete Verhältnis einzelner Vertreter der Zivilbevölkerung wie auch der Gewahrsamsmacht zu den Gefangenen gewesen sein. Dies betrifft sowohl das Zusammenleben im Lager als auch das Erleben außerhalb der Lagergrenzen.

Aufmerksame Beobachter trafen zudem manche Schlußfolgerungen über das Leben der Zivilbevölkerung, die ihre eigene Not zumindest etwas relativierten.

"Die eigentliche Krankenbehandlung lag in den Händen sehr guter deutscher Ärzte und Sanitäter. Ärzte und Schwestern in der Uniform der Roten Armee deckten das Ganze "nach oben" ab. Auf ihre Sachlichkeit, ihr Können und Wohlwollen, aber auch auf ihre Ehrlichkeit kam viel an." F.M.

"Da erlebte ich, daß eine Russin vorbeikam, wenn wir an der Straße buddelten und am Straßenrand ein Stück Brot in Zeitungspapier gewickelt hinlegte. Sie verschwand schnell wieder, denn das wurde hart bestraft. Wir hatten viel Kontakt mit russischen Frauen, die meistens aus der Ukraine stammten. Auf unsere Frage, warum sie in Wologda waren, sagten sie, ihre Männer waren in deutscher Gefangenschaft und zur Strafe sind sie hierher zum Arbeiten verbannt. Sie durften sich nur im Umkreis von 25 Kilometern bewegen. Für ihre Arbeit erhielten sie nur 200 Gramm Brot und eine Krautsuppe auf der Arbeitsstelle. Die Frauen waren ärmer dran als wir Gefangene." H.G.

Stalin hatte bei Ausbruch des Krieges gegen Deutschland den Befehl Nr. 270 erlassen, der die Familien jener Sowjetsoldaten, die in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten, sozusagen stellvertretend für diese aufs Härteste bestrafte. Der Befehl sah die Verhaftung der Familien von Kommandeuren und Politkadern der Roten Armee vor. Familien einfacher Soldaten sollte jegliche staatliche Unterstützung und Hilfe entzogen werden. Sowjetsoldaten, die in Gefangenschaft geraten waren, standen zunachst einmal prinzipiell unter Verdacht des Landesverrats. Offenbar handelte es sich bei jenen russischen Frauen aus der Ukraine, die in den Erinnerungen ehemaliger Gefangener der Lager im Gebiet Wologda wiederholt genannt werden, um Familienangehörige solcher Sowjetsoldaten.

Siehe: Christian Streit. Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945. Verlag J.H.W. Dietz Nachf.GmbH 1991.

Erst nachdem im Januar 1955, im 10. Jahr nach Kriegsende, der Oberste Sowjet der UdSSR den Kriegszustand zwischen Deutschland und der Sowjetunion für beendet erklärte, im September desselben Jahres zwischen der UdSSR und der BRD diplomatische Beziehungen aufgenommen wurden und eine Amnestie für jene Sowjetbürger in Kraft trat, welche von 1941 bis 1945 mit der deutschen Okkupationsmacht zusammengearbeitet hatten, entlastete 1956 eine weitere Amnestie die sowjetischen Kriegsgefangenen.

Quelle: Sbornik zakonow SSSR i ukazow presidiuma werchownogo sowefa SSSR w dwuch tomach. Moskwa 1968. [Sammlung der Gesetze der UdSSR und der Erlasse des Obersten Sowjets der UdSSR in 2 Bänden.]

"Schon 1944 habe ich in Werkstätten außerhalb des Lagers, aber nur in den begrenzten Arbeitsgebieten, mit der Bevölkerung Kontakt gehabt. Andere Möglichkeiten bestanden nicht, denn wir wurden ja nur in Trupps zur Arbeitsstelle gebracht. Wer in einer Brigade arbeiten mußte, kam mit der Bevölkerung nicht in Kontakt. In den 5 1/2 Jahren, wo ich teilweise mit der Bevölkerung Kontakt hatte, war von ihnen nie ein Haß zu spüren, ganz im Gegenteil, immer waren sie freundlich und hilfsbereit." H.F.

"Richtigen Kontakt mit der Bevölkerung bekamen wir erst in Leningrad, Wologda, Sokol und Tscherepowez. Viele Russen sagten uns, gemeint sind Zivilisten, sie waren lieber mit uns im Lager, dann hatten sie eine geregelte Verpflegung und warme Unterkunft. Die meisten Russen waren freundlich zu uns, abgesehen von den jungen Stalin-Schülern in einer Art Parade-Uniform. Wenn wir die als Bewacher hatten, wurde es gefährlich. Dagegen die älteren Soldaten, die an der Front gekämpft hatten, waren kameradschaftlich." K.B.

"Dieser Dank schließt auch Individuen der Gewahrsamsmacht nicht aus, wie z. B. den Lagerkommandanten, den sie "den letzten Preußen" nannten, weil er - mehr Soldat als Ideologe - auf strenge Ordnung hielt, aber den Spielraum aller Mächte der Finsternis in Grenzen hielt; die baltische Ärztin, die ein Auge zudrückte, wo sie es konnte; manche Krankenschwester, deren instinktive Hilfsbereitschaft durch die lauernde Aufsicht, der sie ausgesetzt war, schließlich begrenzt blieb; ja selbst den gleichaltrigen, intelligenten und strengen Oberleutnant von der Operativen Abteilung, den jahrelangen Gegner in Dialog-Ringkämpfen, der den Gefangenen fast zur Verzweiflung gebracht hätte, nach Erkenntnis der Vergeblichkeit seiner Bemühungen von der Anwendung aller in seine Hand gelegten Mittel Abstand genommen und damit darauf verzichtet hat, den Machtlosen, nach dem kein Hahn gekräht hätte, zu zerbrechen." F.M.

Kategorie: Neue Bücher und Publikationen | Hinzugefügt von: Anatoli
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