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Dorothee Asendorf: Der Vater kam zurück, der Papa nicht
03.07.2013, 14:45

19.03.2013 / Frankfurter Allgemeine Zeitung / Der Vater kam zurück, der Papa nicht / Dorothee Asendorf

1943 wird der Vater unserer Leserin Dorothee Asendorf an die Front geschickt. Es dauert fünf Jahre bis er zurückkehrt. Seine Erlebnisse trennen ihn jedoch den Rest seines Lebens von der Familie.

Ich liege bei Mutti und Papa im Bett, Papa versteckt den Kopf im Kissen, ich ziehe es weg und sage „Schwarzer, Schwarzer", und dann ist Papa böse, aber ich weiß, dass er nur so tut. Papa hat nämlich dunkle Haare, Mutti und ich sind blond.

Morgens zieht Papa seine Uniform an, doch das stört mich nicht, alle Männer tragen eine, nur Opas haben keine. Aber die Hose gefällt mir nicht, sie ist an den Seiten so komisch ausgebeult. Darunter trägt er Stiefel. Er sagt, die komische Hose heißt „Britsches", und erst als ich auf dem Gymnasium Englisch lerne, geht mir nachträglich auf, dass damit „breeches" gemeint waren.

Morgens geht er„in den Dienst" , und wenn er Abends nach Haus kommt, stellt er sofort das krächzende Radio an und will alles hören, was „an der Front" passiert ist, auch all die versenkten Bruttoregistertonnen. Schiffe kann man versenken, aber Bruttoregistertonnen? Ich weiß nicht, wo die Front ist, aber sie muss sehr wichtig sein, weil Mutti und ich dann nicht reden dürfen.

Seine Versetzung nach Breslau zerschlägt sich 1942. Wir hätten dann 1945 ohne Papa in der Festung Breslau festgesessen oder wären bei minus 23 Grad auf die Flucht gegangen, Mutti mit Elisabeth, dem Baby, auf dem Arm und ich mit dem vierjährigen Hans-Werner an der Hand, was wäre wohl aus uns geworden?

1942 wird Papa eingezogen und hängt die komische Uniform in den Schrank. Weihnachten feiern wir mit einem einfachen „Rekruten" von neununddreißig Jahren.

Im Herbst 1943 werden wir ausgebombt, kriechen auf dem Bauernhof bei unserem Großonkel Johann unter, und Papa geht „an die Front", nach Russland. Er erlebt noch gerade, dass Elisabeth im November 1943 geboren wird, aber einige Tage später steht ein Auto nachmittags auf dem Hof. Papa ist in Uniform und verabschiedet sich. Ich begleite ihn über die große, dunkle Diele, auch draußen dunkelt es schon, aber ich sehe trotzdem recht gut, dass Papa weint, und ich erschrecke zutiefst. Papa hat noch nie geweint. Männer weinen doch nicht!

Er drückt mir zwei Eukalyptusbonbons in die Hand, eine kleine Kostbarkeit in den Kriegsjahren, dann steigt er ein und das Auto fährt los. Es ist ein Abschied auf fünf Jahre. Elisabeth ist ein paar Tage alt, Hans-Werner ist zwei, ich bin sieben Jahre alt.

Aus Russland schickt Papa mir im Mai 1944 zum Geburtstag eine Geburtstagskarte und ein Heftchen, beides habe ich bis heute aufbewahrt. Im November 1944 erhalten wir die Nachricht, dass er östlich der Beresina vermisst ist.

Ein ganzes Jahr lang hören wir nichts von ihm, wissen nicht, ob er überhaupt noch am Leben ist. Dann gibt das Rote Kreuz im Radio Namen von Kriegsgefangenen in Russland bekannt, darunter auch Papas Namen. Jetzt wissen wir wenigstens, dass er noch lebt.

Aber wird er es irgendwann nach Haus schaffen? Mutti ist sehr besorgt, weil er doch zwanzig Jahre älter ist als die meisten Kriegsgefangenen, also ziemlich alt für einen Soldaten. Als endlich die erste kurze schriftliche Nachricht von ihm eintrifft, sind alle erleichtert. Einige Sätze sind geschwärzt, aber wir dürfen ihm auch schreiben, allerdings ist die Wortzahl begrenzt.

Doch Papa ist erfinderisch, hängt Substantive zu einem Wort aneinander und auf einer Karte schreibt er „Onkeljohannarbeit", was Anlass zur Heiterkeit gibt, denn Papa hat bekanntermaßen zwei linke Hände. Aber vielleicht nehmen es die Russen in der Landwirtschaft nicht so genau. Außerdem dreht er Seile, streicht Datschen bunt an und baut die Autobahn Moskau-Archangelsk – kein Wunder, wenn es die nicht mehr geben sollte. Die Lager, an die wir schreiben, heißen Grasowietz, Wologda und Tscherepowitz.

Inzwischen sind im Dorf alle Väter zurück, die den Krieg überlebt haben, nur Papa nicht. Aber nun weiß ich auch, wie man richtig wünscht. Dazu muss man erst einen Schornsteinfeger sehen, sofort einen Knopf an der Kleidung festhalten, bis man einen Mann mit Brille sieht, dann darf man sich etwas wünschen und den Knopf loslassen, doch auf dem Dorf kommt der Schornsteinfeger nur einmal im Jahr, und Männer mit Brille gibt schon gar nicht.

Das ändert sich, als ich im Städtchen aufs Gymnasium gehe. Dort machen mehrere Schornsteinfeger die Runde, und in der Schule gibt es Lehrer mit Brille – daher gelingt mir das Wünschen nun immer öfter, und ich wünsche mir jedes Mal „dass Papa nach Haus kommt". Es muss wohl geholfen haben, denn im September 1948 erhalten wir die Nachricht, dass Papa ist aus der Kriegsgefangenschaft entlassen ist und über Friedland nach Haus kommt.

Mutti macht uns drei fein, ich habe ausnahmsweise ordentliche, fest geflochtene Zöpfe, Onkel Johann spannt die Kutsche für die, für ein Pferd viel zu lange Fahrt ins Städtchen an, immerhin zwölf Kilometer hin und zwölf Kilometer zurück, und dann fahren wir Kinder mit ihm los, um Papa abzuholen.

Wir vier warten auf unserer Seite an der britischen Pontonbrücke über den Fluss, bis ein Mann, den wir nicht kennen, ganz allein und langsam über die Brücke kommt. Er trägt einen Sack über der Schulter, hat komische Sachen an und noch komischere Schuhe aus Stoff mit Holzsohlen. Papa? Ist das Papa? Ja, Papa!

Ich bin enttäuscht, denn zuhause freut er sich nicht über die von mir gesammelten Briefmarken und ist so ganz anders, als ich ihn in Erinnerung habe. Wo ist der Papa, der mich an die Hand nimmt, wenn ich mich fürchte, der mir Eis bringt, wenn es schon gar keins mehr gibt, dessen Federhalter ich immer noch gebrauche und der mir aus dem Chaos des Rückzugs in Russland noch im Mai 1944 mit der Feldpost ein Heftchen zum Geburtstag schickt, „weil du doch so gern liest".

Er erzählt uns und selbst Mutti kaum etwas aus Russland. Vielleicht kann er es nicht, vielleicht will er uns schonen, vielleicht will er auch nur noch vergessen.

Und so ist er uns fremd, fühlt sich wohl auch fremd in einer ihm fremd gewordenen Welt – und bleibt bis zu seinem Tod ein Fremder. Seine Erlebnisse haben ihn für immer von uns getrennt.

Unser Vater ist zurückgekommen, mein Papa ist in den Weiten Russlands geblieben.

Fünf Jahre lassen sich nicht aufholen, das Grauen lässt sich nicht erzählen.

Kategorie: Medienberichte | Hinzugefügt von: Anatoli
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