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Wolfgang Stadler "Hoffnung Heimkehr"
24.11.2013, 16:17

Auszug von Seiten 170-175 (Tscherepovetz, Februar – März 1944)

Im Lager 158

Hoffnung Heimkehr6. Februar. Der Zug hält. Aussteigen, Antreten, Abmarsch. Schon von weitem ist ein mit hohen Brettern umgebenes Gelände zu sehen. Ringsum mehrere Wachtürme. Also unverkennbar ein richtiges Lager. Was wird dort sein? Werden wir da eine endgültige Bleibe finden, etwas mehr Ordnung haben, vielleicht auch regelmäßige Verpflegung erhalten? Etwa sechs Holzbaracken befinden sich innerhalb der mit Stacheldraht bestückten Umzäunung. Einmarsch, Aufstellung. Der Lagerleiter, ein Deutscher, sagt: „Ich begrüße euch im Kriegsgefangenenlager 158. Es befindet sich in deutscher Selbstverwaltung. Die Mitglieder der Lagerleitung werdet ihr in den nächsten Tagen noch kennenlernen. Die Situation hier ist kompliziert, das Lager total überbelegt. Aber damit müssen wir fertig werden, denn niemand konnte damit rechnen, dass in so kurzer Zeit so viele Gefangene gemacht wurden. Ich erwarte, dass ihr die Lagerordnung achtet, euch diszipliniert verhaltet und die Befehle, die wir von der russischen Kommandantur bekommen, befolgt. Die meisten von euch werden wahrscheinlich nicht lange hierbleiben. Es sind Transporte in richtige Arbeitslager vorgesehen. Das hier ist nur ein Durchgangslager. Deshalb gibt es auch nur die Grundverpflegung: täglich zweimal 500 Gramm Suppe und 200 Gramm Brot Wir hoffen, dass die Zuteilung in nächster Zeit etwas erhöht werden kann, da der Ring um Leningrad gesprengt wurde. Alles weitere erfahrt ihr zur rechten Zeit. Zugführer zu mir!"

Das waren ja keine verheißungsvollen Mitteilungen. Nach einer Weile winkt der Zugführer. Wir folgen ihm in eine Baracke. Es ist ein einfacher Parterre-Holzbau. Die Inneneinrichtung besteht aus Doppelpritschen. Sie nehmen die gesamte Unterkunftslänge ein. Der untere Bretterbelag ist bereits von Gefangenen besetzt. Also müssen wir hoch. Ob wir alle auf der Fläche Platz finden? Die Kletterei beginnt. Das gesamte Holz-Gelage ächzt. Jemand sagt bedenklich: „Und wenn wir durchbrechen?" Ein anderer: „Was soll passieren, unter uns liegen ja genug Leute. Wir fallen weich." Ein kleines Fenster gewährt Ausblick. Durch den Stacheldraht-Zaun ist ein Stück des unergründlichen Russland zu sehen. Fremdheit. Nach etwa einer Stunde ruft der Zugführer: „Kameraden, heute gibts nichts mehr. Ihr könnt euch langmachen!" Innerhalb weniger Sekunden liegen wir aneinandergereiht wie die Ölsardinen in der Dose. Wer nicht schnell genug reagierte, hockt nun am Fußende mit dem Rücken zur eiskalten Wand. In der Mitte der Baracke steht ein Ofen. Auch der ist kalt. Geschlafen (oder besser: geruht) wird auf einer Körperseite liegend, dicht aneinandergeschmiegt. Das ist zwar unbequem, aber immerhin wird damit ein Wärmefeld erzeugt.

Nachts geht oft ein Ruck durch die Reihe, wenn ein Kamerad zur Latrine muss. Dann versuchen die „Außenseiter", sich dazwischen zu schmuggeln. Das gelingt aber kaum. Auch ich muss mal den unvermeidlichen Weg ins Freie antreten. Als ich zurückkomme, ist mein Platz natürlich aufgefüllt. Jetzt hocke ich mit anderen Kameraden am Barackeneingang. So oft die Tür aufgeht, befördert sie einen grausigen Kältestrom ins Innere des Baues. Beste Gelegenheit, sich eine Lungenentzündung zuzuziehen.

7. Februar. Als der Morgen graut, bringen zwei Küchenarbeiter einen Essenkübel in die Baracke. „Verpf1egungsausgabe!" Sofort ist alles auf den Beinen. Ich bin der Verteilerstelle recht nahe und gehöre zu den ersten, die einen halben Liter Wassersuppe und ein Stück des eigenartigen, knochenhart getrockneten Scheibenbrotes erhalten. Das ist die Tagesration. Während sich die Kameraden der oberen Etage nach unten bemühen, habe ich die Suppe schon gelöffelt und kann mir oben wieder einen Platz sichern. Nach und nach folgen die anderen. Dicht aneinandergepresst liegen wir auf den harten Brettern. Bald beginnen Arme und Beine zu schmerzen. Wer sich auf die andere Seite drehen will, wird meist unweigerlich aus der Reihe gedrängt.

Am Nachmittag hallt ein aufmunterndes Kommando durch die Baracke: „Fertigmachen zum Duschen!" Wir schauen uns ungläubig an. Ein Bad im Gefangenenlager? Wer hätte das für möglich gehalten. Ein paar Stufen führen hinab in den Keller. An die niedrige Decke ist ein Wasserleitungsrohr montiert. Darunter befinden sich im Abstand von etwa einem Meter durchlöcherte Blechdosen. Eine primitive Konstruktion, aber sie erfüllt ihren Zweck. Der Bademeister erklärt: „Wasser ist knapp. Beeilt euch, damit es für alle reicht!" Jeder erhält ein fingernagelgroßes Klümpchen brauner Schmierseife. Wasser läuft etwa eine Minute. Danach Einseifen. Dann kommt wieder Wasser. Es ist sogar warm. Schubserei beginnt, denn jeder will unter den kostbaren Strahl. Nach wenigen Augenblicken ist das Vergnügen vorbei. Es war eine Wohltat. Wir sind erwärmt und vom gröbsten Dreck befreit. Anschließend bekommt jeder einen Stofffetzen mit dem Hinweis: „Das ist jetzt euer Handtuch!" Duschen erfolgt wöchentlich. Der Hygiene wird - soweit überhaupt möglich - große Bedeutung beigemessen. Die Lagerleitung befürchtet, es könnten Epidemien ausbrechen. Auch Gesundheitsuntersuchungen finden statt. Mehrere Kameraden werden in die Krankenbaracke verlegt, einige schwer Erkrankte aus dem Lager gebracht. Dadurch entsteht in der Baracke etwas mehr Platz, und das Gedränge auf den Pritschen lässt nach.

8. Februar. Umgruppierungen sind vorgenommen worden. Einige Gefangene verlassen das Lager. Wohin, weiß keiner zu sagen. Dafür treffen neue ein. Unter ihnen befinden sich auch Angehörige meines früheren Bataillons. Ihre Berichte besagen, dass die zurückflutenden Einheiten von russischen Truppen eingekesselt wurden. Während der erbitterten Kämpfe seien sehr viele Kameraden gefallen. Ich frage nach Wolfgang Moser, der zur Nachbarkompanie gehörte. Ein Kamerad versichert: „Der wurde schwer verwundet, ist gefallen." Ich bin erschüttert, da wir einander während der gesamten Arbeitsdienstzeit sehr nahe standen. Später erfahre ich, dass auch der Leiter des Colditzer Spielmannszuges, Kurt Schultheiß (19), sowie Horst Keller (22), der Sohn unseres Nachbarn, bei den Absetzbewegungen vor Leningrad ums Leben kamen.

9. Februar. Mit der Verpflegung hapert es nach wie vor. Der körperliche Verfall aller Gefangenen schreitet fort. Kein Wunder, dünne Suppen und Trockenbrot. Die Latrine, eine offene Grube, wird oft in Anspruch genommen. Viele Kameraden haben Durchfall. Nächste Phase: Ruhr. Da stelle ich Blut im Stuhl fest. Gehe sofort zum Arzt. Der gutmütige Russe betrachtet mein Hinterteil, lacht – „Tolko Gemoroi!" - und verabschiedet mich mit einem Klaps auf die Backen. Der Sani übersetzt: „Es ist nur eine wunderschöne Hämorride." Gegenfrage: „Was ist zu tun?" Er: „Operieren können und dürfen wir nicht, Medikamente haben wir nicht, und lebensgefährlich sind Hämorriden auch nicht. Nur schmerzhaft. Wirst damit leben müssen. Am besten immer mal mit kaltem Wasser oder Schnee kühlen." Ich kann mir das Ding nur zugezogen haben, als wir während des Marsches nach Leningrad im Schnee sitzend pausierten.

Gelangweilt liegen wir auf den Pritschen. Die Fensterplätze im „Oberrang" sind ständig umlagert. In der Nähe muss sich ein Flugplatz befinden, denn manchmal setzt ein kleines einmotoriges Flugzeug zur Landung an. „Flieg Gedanke, getragen von Sehnsucht..." Verdis bekannter Gefangenenchor kommt mir in den Sinn und beflügelt die Phantasie: Pilot müsste man sein, ausbrechen, ein Flugzeug kapern und dann ab in die Heimat. Husarenstreiche dieser Art gab es ja viele, zumindest in Abenteuerbüchern und Landserheften. Und welche konkreten, realisierbaren Chancen gibt es tatsächlich? Einhellige Überzeugung: Keine! Hier sitzen wir unentrinnbar fest.

Aber ein paar besonders stramme Kameraden meinen: „Denkt ihr denn, das OKW (Oberkommando der Wehrmacht) sieht tatenlos zu, wie eine ganze Armee eingeschlossen wird, und lässt sie im Stich? Die Front ist noch nicht allzu weit entfernt, ein Gegenangriff jederzeit möglich. Ich entgegne spitz: „Ja, eines Tages fallen Fallschirmjäger vom Himmel, sie umstellen den Flugplatz und machen die russischen Wachsoldaten nieder. Dann landen einige Ju 52, wir steigen ein und sind gerettet." Hermann ergänzt: „Genau so. Nach dem Stalingrader Motto: Kameraden haltet aus, der Führer haut euch raus!" Der Barackenälteste hatte zugehört und rief herauf: „Na, Kameraden, dann überlegt euch schon mal, was ihr den Rettern erzählen wollt, wie ihr in Gefangenschaft kommen konntet und wieviel Schuss Munition ihr noch in den Patronentaschen hattet, warum ihr nicht verwundet seid und überhaupt noch lebt. Der Verdacht, nicht bis zum Äußersten für Führer, Volk und Vaterland gekämpft zu haben, ist doch offensichtlich!" Das Thema wird weiterhin debattiert. Jeder findet eine persönliche Rechtfertigungserklarung: „Bin verwundet worden." „Auf Befehl des Vorgesetzten ergeben." „Eingekesselt." Und natürlich: „Ich habe bis zur letzten Patrone gekämpft."

Die Gespräche offenbaren, wie unterschiedlich die Gefangennahme verlief. Manche Kameraden traten ohne jegliche Drangsalierung den Marsch in die Sammellager an. Andere wiederum wurden unterwegs traktiert, gemartert, mehrere berichteten über Erschießungen. Wohl und Wehe, Gnade oder Ungnade, Korrektheit oder Gemeinheit hingen von den Charakteren der Rotarmisten ab, denen man zufälligerweise in die Hände fiel. Ich höre, dass - ähnlich unserer Gefangennahme - auch andernorts russische Offiziere oft Willkürakte verhinderten.

10. Februar. Befehl des russischen Lagerkommandanten: „Alle Gefangenen müssen täglich eine Stunde ins Freie. In dieser Zeit sind die Baracken zu durchlüften!" Da wird es drinnen ja noch kälter. Aber vom gesundheitlichen Standpunkt aus ist die Maßnahme wohl notwendig.

11. Februar. Den Appellplatz bevölkern laufende Soldaten. Damit es nicht so stupide wirkt, sollen dabei Lieder gesungen werden. Dies geschieht mehr schlecht als recht, denn keinem ist nach Singen zumute. An erster Stelle unseres bescheidenen Repertoires steht das „Erika"-Lied von Herms Nie! (in Fachkreisen Professor Bumm-Bumm genannt). Auch „Agonnerwald", „Fern bei Sedan", „Siehst du im Osten das Morgenrot", „Wir traben in die Weite" und andere Marschlieder machen die Runde. Doch als eine Truppe gar das „England-Lied" schmettert, ist der Höhepunkt erreicht und der Teufel los. Der Politkommissar kommt zu dem Schluss: „Alle dienen der Verherrlichung des faschistischen Militarismus." Die Folge: Singen ab sofort verboten! Die Gefangenen schmunzeln zufrieden.

16. Februar. Quarantäne! Laut Bestimmung der 40tägigen „Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung epidemischer Krankheiten" dürfte eigentlich niemand außerhalb des Lagers eingesetzt werden. Trotzdem ruft man einen Teil der Barackenbelegung zum Arbeitseinsatz. Missmutig folgen wir der Anordnung, trösten uns aber mit der Hoffnung, draußen vielleicht etwas Abwechslung und Zeitvertreib zu finden. Im übrigen läuft die Quarantänefrist in wenigen Tagen ab. Also werden künftig Arbeitskommandos zur Tagesordnung gehören.

Wir marschieren zum nahen Bahnhof, müssen dort aus einem offenen Güterwagen Holz entladen. Keine allzu schwere Arbeit. Nur der kalte Wind faucht unangenehm. Das Holz ist ringsum mit Eis und Schnee verkrustet. Die dünnen Wehrmachtshandschuhe, die man uns glücklicherweise bisher nicht abnahm, gleichen bald Eisbiöcken. Nach etwa zwei Stunden Arbeit wird mir plötzlich schwindelig. Mir ist, als setze sich der Waggon in Bewegung. Kurz danach finde ich mich sitzend auf dem Boden wieder. Kameraden helfen mir auf die Beine. Nach dem Einsatz gehe ich zum Lagersani. Er flößt mir etwas ein und sagt: „Das passiert oft; Schwäche, Unterernährung. Daran musst du dich gewöhnen. Kein Grund zur Beunruhigung. Ihr werdet sowieso in den nächsten Tagen gründlich untersucht und abtransportiert." Ich frage: „Und wohin?" Er flüstert geheimnisvoll: „Weit ist der Weg zurück ins Heimatland..."

3. März. „Alles auf zum Duschen!" Der anschließende Gesundheitsappell gleicht einer Fleischbeschau. Wir defilieren an einer Kommission russischer Ärztinnen und Ärzte vorbei. Deutsche Sanitäter wiegen, messen Körpergröße, Puls, Temperatur. Jeder wird nach persönlichen Beschwerden befragt. Die Antworten gleichen sich: Schwäche, Schwindelanfälle, Magenkrämpfe, Verstopfung, Hämorriden, Durchfall, Blut im Stuhl usw... Fast alles wird mit „nitschewo" oder „normalno" abgetan. Die meisten Kameraden erhalten das Prädikat „krepki", was wohl soviel wie „gesund" oder gar „kräftig" bedeutet. Nur Fiebernde beordert die Kommission auf die Seite.

5. März. Abends bewegt sich die „Karawane der Auserlesenen" zum Bahnhof. Die Belegung der bereitgestellten Waggons erfolgt nach Aufruf. Zwei Offiziere haken auf ihren Listen beim Einsteigen gewissenhaft die Namen ab. Sind wir nun abgeschrieben? Nach kurzer Fahrt erfolgt auf einem Güterbahnhof das Umsteigen in größere Waggons. Wieder die gleiche Abzählzeremonie. Sie zieht sich hin. Neue Gefangene kommen. Sie werden von den Posten abgetastet, ob sie nicht etwa Gegenstände bei sich führen. Dann rollt die Tür zu. Jemand ulkt: „Die Fahrkarten bitte!"


Das Buch Wolfgang Stadlers "Hoffnung Heimkehr" erschien 2000 im Verlag Swing Druck GmbH in Colditz (ISBN: 3-9807514-0-6).

Kategorie: Erinnerungen von Kriegsgefangenen | Hinzugefügt von: Anatoli
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