Auszug von Seiten 159-162
Genau wie unser Schauspieler, der durch die Baracken ging und dort Gedichte oder Abschnitte aus Bühnenwerken rezitierte, kam ein älterer Hauptmann aus unserem Raum auf die Idee, uns schöngeistige Literatur durch Vortrag nahe zu bringen. Dieser Mann zeigte ein unscheinbares Äusseres, verbreitete aber in Haltung und Auftreten das Fluidum eines Gentleman. Welchen Beruf er im Zivilleben hatte, wusste niemand. Er könnte Studienrat oder Professor gewesen sein. Darüber verlor er nie ein Wort. Er blieb in allen Situationen, mochten sie auch noch so widrig oder verletzend sein, gleichbleibend freundlich, gelassen und überlegen, so als betrachte er die Geschehnisse mit dem Abstand und der Überlegenheit eines philosophischen Geistes.
Er lag mir gegenüber im dritten Stock und bat eines schönen Tages nicht laut, aber eindringlich und mit wohlgesetzten Worten um Aufmerksamkeit. Es dauerte ein Weilchen, bis alle zuhörten. Er wolle, so sagte der Hauptmann, jeden Abend einige Abschnitte aus Gottfried Kellers ‚Leute von Seldwyla‘ vorlesen zur Zerstreuung der Kameraden und ihrer Erbauung. Wenn der Versuch gelänge, sei er gerne bereit, später aus einem anderen im Lager verfügbaren Werk vorzulesen. Er möchte aber niemand seinen Willen aufzwingen oder sich gar aufdrängen. Er halte es aber für richtig, die geistige Kapazität von der Misere des Alltags, des Stacheldrahts, der Freiheitsberaubung, des Essens und Schlafens ab und auf schöngeistige Dinge zu lenken. „Kameraden“, so schloss er, „das brauchen wir, wir brauchen den Geist, wenn wir überleben wollen.“ Alle waren für seine Anregung dankbar, und viele, darunter auch ich, dachten lange über das nach, was der Hauptmann in so wenigen Sätzen gesagt hatte. Der Mann hatte nur allzu recht.
Der Versuch begann erfolgreich. In unserem sehr hohen Raum pendelte an der Decke eine einzige Glühlampe, deren Stärke gerade eben ausreichte, in allernächster Nähe ein bisschen Helligkeit zu verbreiten. Dort kauerte der Hauptmann im Schneidersitz, das Buch auf den Knien. Ruhe kehrte ein. Mit sauberer, klarer, fein akzentuierter Stimme begann er zu lesen.
Wir lagen lang ausgestreckt auf unseren Pritschen, rauchten Pfeife oder Zigaretten und lauschten den Geschichten der Leute von Seldwyla, der Mutter Regula Amrain, den Abenteuern des Schneiders in der Geschichte ‚Kleider machen Leute‘. In der Schule hatte die Leute von Seldwyla einmal zur Pflichtlektüre gehört, und als Pennäler konnte man sich nichts Langweiligeres vorstellen als diese so breit angelegten Geschichten. Dieselben Geschichten klangen hier im Klostergebäude des Lagers 150 Grjasowez plötzlich ganz anders und so gar nicht mehr langweilig. Im Gegenteil, die meisten von uns fühlten sich irgendwie gepackt.
Die Lesestunden wurden zu Inseln des Friedens und des seelischen Luftholens in der tristen Eintönigkeit des übrigen Lagerlebens. Auf die Frage, ob er weiterlesen solle, klang dem Hauptmann ein einstimmiges „Ja“ entgegen. Bald gehörte die Lesung zum festen Bestandteil des Tages. Jeder, der unterwegs war, beeilte sich mit dem Heimkommen, um die Fortsetzung der Geschichte nicht zu verpassen. Zum zweiten Mal erlebte ich Kraft und Macht des Dichterwortes.
Umso herber traf es uns alle, dass die feingeistigen Lesungen ein unerwartetes, ja, tragisches Ende nahmen. Es war kurz nach dem ersten Adventssonntag, als es abends hiess: Die Lesung fällt heute Abend aus. Der Hauptmann ist ins Lazarett eingeliefert worden. Wahrscheinlich hat er sich eine Lungenentzündung zugezogen. Es fand eine kurze Beratung statt, ob ein anderer die Rolle des Vorlesers übernehmen solle. Es fand sich keiner bereit. Jeder war froh darum, so komisch das klingt. Aber die Geschichte der Leute von Seldwyla, der Hauptmann und das Vorlesen, das war eins, das konnte man nicht auseinander dividieren. So wurde die Lesung ausgesetzt. Jeder empfand diesen Ausfall als herben Verlust. Der Tag hatte plötzlich eine Lücke.
Anfangs nahmen wir die Nachricht von der Lungenentzündung nicht so ernst. Auch wenn der Hauptmann nicht einer der kräftigsten war, so würde er die Krankheit sicher bald überstanden haben. Das war eine Täuschung. Seine Abwesenheit zog sich über die Weihnachtsfeiertage hinaus. Kurz vor Silvester erreichte uns die traurige Mitteilung, dass er gestorben sei. Auf dem kleinen Lagerfriedhof fand er seine letzte Ruhestatt.
Kommentar vom Autor der vorliegenden Publikation A.Sytschow: Es handelt sich vermutlich um den Hauptmann Friedrich Gloger, geboren am 03.07.1907 in Glatz, verstorben am 11.12.1944 im Kriegsgefangenenlager 150 Grjasovetz.
Auszug von Seiten 268-270
Morgens früh in der Dunkelheit schlüpften wir, ohne einen Bissen im Magen, in unseren Pelzmantel, banden einen Strick um den Leib, klemmten das Beil dazwischen und nahmen die Blattsäge unter den Arm. Ein dosswidanija für Alexandra, und schon machten wir uns auf den anderthalbstündigen Weg zum Wald. Der Trampelpfad war gerade so breit, dass man zwei Füsse auf ihn setzen konnte. In leichten Schlangenlinien führte er über die hoch verschneiten Felder und Acker. Äste und Zweige, die wir in gewissen Abständen in den Schnee gesteckt hatten und die wir jeden Tag auf dem Rückweg weiter ergänzten, zeigten an, wo der Pfad entlang lief. Windstille Tage waren selten. Schon leichter Wind wehte den lockeren Schnee über die Spur. Man musste sehr oft erst mit dem Fuss abtasten, ob man sich auf dem festgetrampelten Pfad befand. Verfehlte man den Pfad, so rutschte man in den metertiefen Schnee ab und hatte Mühe, sich herauszuarbeiten und auf den Weg zu kommen. Wenn der Wind schärfer blies, so verdoppelte sich die Mühe, auf dem Weg zu bleiben und den Wald oder das Dorf zu erreichen.
Nicht selten waren wir dann zwei bis drei Stunden unterwegs, sowohl auf dem Hin- wie auf dem Rückweg. Und mehr als einmal kamen wir erst um sieben, acht oder neun Uhr erschöpft und abgekämpft nach Hause.
Einmal brach während unserer Arbeit ein Schneesturm los, ähnlich schlimm, wie ich ihn in der owinja erlebt hatte. In den Wipfeln brauste und röhrte der Sturm. Unten spürten wir die Gewalt des Windes nicht so sehr, weshalb wir trotz schwerer Bedingungen weiterarbeiteten. Erst als wir Schluss gemacht hatten und den Wald verlassen wollten, merkten wir, dass es draussen im Freien lebensgefährlich war. Unter Heulen und Brausen sauste eine Schneewand nach der andern über die Landschaft, dass man kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Dennoch wollten wir nach kurzer Beratung den Rückweg wagen. Die Aussicht, im Wald zu übernachten und vielleicht drei oder vier Tage nicht rauszukommen, schien uns wenig verlockend.
Wir drängten uns eng zusammen und reichten uns die Hände, um gegenseitig Kontakt zu halten und um zu verhindern, dass einer die an- dem verlor und allein im Sturm umherirrte. So rückten wir vielleicht fünfzig Meter in die Schneelandschaft und in das Unwetter hinaus, bis wir einsahen, dass es keinen Sinn hatte. Werner Leidig, der sich an die Spitze der Kette gesetzt hatte, gab den Befehl zum Umkehren. Wir waren gezwungen im Wald zu übernachten.
Zuerst liessen wir an einer Arbeitsstelle das Feuer wieder aufzüngeln, setzten uns drum herum, wie wir es von unseren kurzen Pausen her gewöhnt waren, und qualmten erst mal tüchtig drauf los. Das vertrieb den Hunger und beruhigte die Nerven. Später suchten wir einen niedrigeren, gut geschützten Bestand. Dort buddelte sich jeder im Schnee eine tiefe Mulde, die mit Tannenzweigen gut ausgepolstert wurde. Da hinein legten wir uns, schoben wieder eine Lage Zweige über unsern Körper und häufelten Schnee darauf. So gab es, verstärkt durch den Schutz unserer wattierten Kleidung, des Pelzmantels, der Pelzmütze, der Fausthandschuhe und nicht zuletzt durch die walenkis, ein angenehm molliges Lager. Da konnte man ohne weiteres schlafen und brauchte keine Angst zu haben, man könnte erfrieren, zumal es nicht übermässig kalt war.
Natürlich wachte ich in dieser Nacht, genau wie meine Kameraden, oft auf und lauschte dem Krachen der Bäume und dem grimmigen Heulen des Sturmes. Im Halbschlaf dachte ich darüber nach, wo ich in all den Kriegsjahren schon überall geschlafen oder übernachtet hatte: im Freien, im Zelt, im Panzer, unter dem Panzer, im Führerhaus eines Lkw, auf dem Fahrersitz eines Kübelwagens, im Eisenbahnabteil, mal dritter, mal zweiter, mal erster Klasse, auf einem Panjewagen, im Güterwagen, im Lazarettwagen, im Heuschober, im Pferdestall, auf Pritschen, im Lazarettbett, auf einer Trage, auf den Körnern in der owinja, auf dem Ofen - und jetzt in einem Schneebett in einem russischen Wald...
Auszug von Seiten 290-291
Auch diese letzte offizielle Mitteilung konnte meinen Eltern wenig Tröstliches mitgeben. Ich galt als vermisst. Die Angehörigen mussten aber damit rechnen, dass ich gefallen war. Nun geschah etwas Sonderbares. Fast gleichzeitig mit dem Brief des Oberzahlmeisters trafen zwei andere Schreiben ein. Sie schienen mysteriös, gaben dennoch meinen Eltern die Hoffnung, dass ich noch am Leben sei.
Der Wortlaut des einen Schreibens, das handschriftlich auf den Zettel eines Abreissblockes gekritzelt war, hiess: ‚Berlin, den 20.5.44 - Herrn Richard von Lehme (es hätte natürlich heissen müssen Herrn Ritter von Kleemann)! Möchte Ihnen freundlichst mitteilen, dass Ihr Sohn, Lt. Siegfried Karl von Lehme sich wohlbehalten in russischer Kriegsgefangenschaft befindet. Es geht ihm gut und sendet Ihnen herzliche Grüsse, - leider z.Zt. namenlos.‘
Der zweite Brief war mit Schreibmaschine geschrieben und lautete: ‚Im Sender des Nationalkomitees ‚Freies Deutschland‘ grüsste Sie aus russischer Kriegsgefangenschaft Leutnant Sigfried Kleemann. - 22.8.44.‘
Die Rekonstruktion ergab, dass die Russen im Sender des Nationalkomitees Freies Deutschland, der bereits kurz beschriebenen Vereinigung kommunistischer Emigranten, Namen von deutschen Kriegsgefangenen durchgaben, und dass Leute in Deutschland, wahrscheinlich Kommunisten und Widerstandskämpfer, die Angehörigen dann anschrieben. Diesen unbekannten Menschen, die anonym bleiben mussten, weil sie sonst Kopf und Kragen riskierten, wäre heute noch Dank zu sagen. Unter Einsatz ihres Lebens gaben sie ohne jede Verpflichtung vielen Angehörigen vermisster Soldaten einen Funken Hoffnung auf die Rückkehr ihrer Lieben mit auf den Weg.
Lebenslauf von Siegfried Kleemann
Geboren am 29. Juni 1924 in Kirkel-Neuhäusel.
HJ Sept. 1938 - Febr. 1942
Soldat 09.02.1942 - 29.06.1944, Leutnant
Heeresgruppe Mitte, 3. Panzer-Armee, 95. lnf. Division mot. Sturmgeschütz-Abteilung 1195, FP Nr. 38013
Russische Kriegsgefangenschaft: 29.06.1944 - 28.02.1948
- Grjasowez, Lager 7150 (auch 150) 1944 bis 1947, Offizierslager
- Sokol (Oblast Wologda), Lager 1793 (auch 193), 1947
- Tscherepowez, Lager 437, 1948
Heimkehr nach Kirkel: am 28. Februar 1948
Verheiratet, 3 Kinder.
Lehrer, Schulleiter der Hauptschule in Türkismühle. Ruhestand im Juli 1986, Autor pädagogischer Schriften.
Verstorben am 05. Juni 1999 in Moers, im Krankenhaus (Parkinson), beerdigt in Türkismühle.
Manuskript erstellt April bis Dezember 1981. Das Buch "Ich war ein Plenni" erschien 2014 in der Ottweiler Druckerei und Verlag GmbH. Herausgeber: Horst Porschen (Heimatfreunde Türkismühle). Zweite Auflage eingelesen, überarbeitet und gesetzt von Robert Groß. |