Internationale Gesellschaft Russki Plen

Kategorien der Rubrik

Neue Bücher und Publikationen [17]
Erinnerungen von Kriegsgefangenen [30]
Medienberichte [17]
Reiseberichte [6]
Veranstaltungen [15]
Formulare [1]

Einloggen

Dateiverzeichnis

Hauptseite » Dateien » Erinnerungen von Kriegsgefangenen

Robert Prinzing: Kriegserlebnisse (Auszug. Teil 3)
06.06.2013, 17:51

28.12.46 - 2.1.47

Ankunft in Tscherepowitsch ca. 2.00 Uhr, Bad, letzte Vernehmung (2 mal), Arbeitsgruppe OK/Distr.I/II . Unterkunft 1.Kp, dunkel, kalt. Am 31.12 Umzug in alten Teil der Schiffkowitz - Baracke, leer, kalt, dunkel. Miese Stimmung, Eberhard Becker und ich wärmen uns gegenseitig.

Endlich war es soweit. Am 16.4.46 verliessen wir zum letzten Mal Lager 150, Grassowijetz, um es nie wieder zu sehen. Gegen 17 Uhr bestiegen wir den fahrplanmässigen Zug Jaroslawl - Wologda. Wir hatten ein reserviertes Abteil und damit eine angenehme Fahrt. Gegen 20 Uhr in Wologda hiess es umsteigen in den Zug nach Nikolskoja. Dieser ging aber erst gegen 23 Uhr und wir vertrieben uns die Wartezeit in einem glücklicherweise geheizten Raum. Zu unserem Glück. Denn bei der Abfahrt hatte man uns im Lager die gesamte Winterausrüstung, Pelzmäntel und Filzstiefel, abgenommen und für dünne Mäntel und Holzschuhe war es draussen schon reichlich kalt. Im Gepäcknetz unseres Abteils schlief ich bald ein und musste bei der Ankunft in Scheksna, unserem Ziel, wachgerüttelt werden. Noch schlaftrunken stolperte ich über Schienen und Weichen dem Ausgang zu. Bei Tagesanbruch kamen wir zu unserer neuen Heimat, einem kleinen Lager mitten in einem Dorf. Es bestand aus mehreren grösseren Gebäuden, mit Stacheldraht umgeben. Nach den üblichen Empfangszeremonien wurden wir in einem der Gebäude einquartiert, wo natürlich noch nichts für uns vorgesehen war. Mit unserem Lärm weckten wir die noch schlafende 10. Kp und ernteten manche Flüche. Die folgende Wartezeit benutzte ich zu einem Besuch bei meinem ehemaligen Kommandeur, Major Linke, der bereits seit einem Monat mit seiner Kompanie hier hauste. Wer konnte mir schon bessere Auskunft geben, über das, was uns bevorstand? Major Linke freute sich einerseits, mich zu sehen, andererseits hatte er Mitleid mit mir, weil er die Hölle, die uns bevorstand, kannte. Er nannte das Lager eine Hölle und erläuterte es mir anschliessend. Aus seinen Worten ging Folgendes hervor: Verpflegung = miserabel, Arbeit = Schwerstarbeit, deutsche Lagerleitung aus Mannschaftsdienstgraden bestehend und im Verein mit der ebenfalls hier wohnenden Landserkompagnie ein Ausgeburt an Schikane und Bosheit. Bei der Arbeit ungenügender Schutz gegen die Witterung, dagegen die Antreiberei auf der Baustelle äusserst gut entwickelt. Bekanntgabe der guten und schlechten Arbeiter an besonderen Anschlagtafeln im Lager und ähnliche Scherze mehr. Ich versuchte ihn mit der nicht ganz von der Hand zu weisenden Bemerkung zu trösten, dass wir nun mit 240 Offizieren der beiden Kompanien gegen die 60 Landser die absolute Mehrheit besässen und in unserem Kp - Führer Richter und vor allem dem Battl. Führer Weier Persönlichkeiten besässen, die es mit der Lagerleitung aufnehmen könnten und auch gegenüber dem Russen Rückgrat besässen. Doch Major Linke blieb skeptisch und sah für die Zukunft nicht allzuviel Gutes voraus.

Zunächst liess sich die Sache aber gut an. Unser, der 3.Zug der 11 Kp wurde im grossen Korridor untergebracht, vom Durchgangsverkehr durch eine dünne Bretterwand abgeschirmt. Die Pritschen waren schnell gebaut und wir konnten uns einrichten. Als obligatorischer Verpflegungsteiler, zu dem ich mich langsam entwickelt hatte, erhielt ich im ersten Stock einen Eckplatz, auf dem ich unter Mitbenutzung der Liegeflächen von Magsaam und Krispin künftig das Essen verteilte. Leider hatte dieser Platz einen Nachteil. Es zog unheimlich. Und so stand ich nach wenigen Tagen bereits vor dem Arzt, einen prächtigen Husten vorweisend. Dieser Arzt, ich kenne nur noch seinen Spitznamen "Silberblick", war hypernervös. Sein ständiges Blinzeln durch und über die Brille hatten ihm wohl den Übernamen beigebracht. Als er nun, wenige Meter von mir entfernt, das Rasseln und Keuchen bei jedem Atemzug in meiner Brust hörte, erschrak er und kam gleich mit dem Fieberthermometer angerannt. Da 36,7 nicht seiner bereits feststehenden Diagnose entsprach, musste ich 2 mal messen. Darauf übergab er das Phänomen, das Lungen-entzündung ohne Fieber hatte, seinem Kollegen, Dr. Bürschel. Dieser stellte dann zu meinem Glück nur eine ausgewachsene Bronchitis fest. Die Mittel, fleissig eingenommen, linderten zwar und erlaubten mir wieder das Rauchen, aber ganz gesund wurde ich erst nach einem Platzwechsel. Als Andenken an diese Zeit werde ich wohl immer eine Neigung für Bronchitis behalten. Im inneren Lagerleben änderte sich in dieser Zeit manches, zu unseren Gunsten. Batl. und KP-Führer wehrten sich eisern gegen die mehr oder weniger versteckten Schikanen der Lagerleitung. Sie erzwangen einen Wechsel im Küchenpersonal, trotzten dem Russen die Abstellung eines Küchenkontroloffiziers ab, regelten den ständig nach der Arbeitszeit anfallenden internen Arbeitsdienst, dämpften etwas die Antreiberei und machten mit diesen Massnahmen das Leben etwas erträglicher. Die Zustände, wie sie bisher bestanden hatten, waren aber auch grausam. 8-10 Stunden bei Eis und Schnee auf der Baustelle, dann zurückgekommen das Essen hastig hinunter schlingen und gleich wieder raus zum Arbeitsdienst. Holz, Mehl oder Lebensmittel für die Küche schleppen, das Lager verschönern oder sonstige Beschäftigungstheorien. Dies, um die Leute bis 10 Uhr, 11 Uhr abends in Atem zu halten, danach ein paar Stunden Schlaf und morgens um 6 Uhr gings wieder raus. Bald nach unserem Eintreffen schälten sich 2 Arbeitsgebiete heraus. Die 10. Kp, in der Major Linke und Krumeich waren, spezialisierte sich auf den Dammbau, d.h. sie pflasterten den sich etwa 25 m über dem flachen Ufer erhebenden Eisenbahndamm. Dazu benötigten sie mehr oder weniger grosse Steine, die sie am Fussende des Dammes als Schutz gegen die regelmässigen Überschwemmungen anbrachten. Wir, die 11. Kp, erhielt den Oberbau angewiesen. D.h. wir luden Sandzüge ab, hoben die Schienen mit den Schwellen, luden wieder Sandzüge ab, hoben die Schwellen wieder usw. usw. bis der Damm endlich das Niveau der neuen Brücke erreicht hatte. Die ganze Arbeit wurde geleitet von dem russischen Ingenieur oder Obermeister Ludowina, einem unnahbaren, immer verhältnismässig gut gekleideten Mann mit mongoloidem Einschlag. Ihm unterstanden für die 10. Kp der Meister Iwan Iwanowitsch, ein kleiner Mann in Eisenbahneruniform. Wegen seinen Wutausbrüchen und seinem Jähzorn auch Giftzwerg genannt. Für uns massgebend war Meister Smotrow, der Säufer, da ständig besoffen. Wir haben manches unter ihm erdulden müssen. Zu seiner Hilfe hatte er Lygia, die Streckenhure ernannt. Ehemals eine der weiblichen Dienstverpflichteten war sie wegen besonderer Vorzüge in diese gehobene Stellung gelangt und sprach natürlich mit ihren ehemaligen Arbeitskolleginnen nicht mehr oder nur sehr herablassend. Als weitere Unteraufsicht war noch Smirnow da, ein erst nach unserem Eintreffen Karriere machender Kuli. Über ihn werde ich noch an anderer Stelle berichten. Diesem russischen Aufsichtspersonal standen nun deutsche Hilfskräfte zur Seite. Da war der Lagerleiter, dessen Bereich mehr das Lager, der innere Dienst, war. Leibelt war Sachse, ehemaliger Feldwebel, aus einem anderen Lager hatte er den vielsagenden Übernamen "Schlächter von Schakoda" mitgebracht. Dann sein Adjutant, der ehemalige Methodistenpfarrer Amelung. Dann für uns auf der Baustelle besonders verhasst , Gordon, "Die rote Nelke". Er hatte neben seinem Posten als oberster deutscher Politruk auch den eines Beauftragten für den Arbeitseinsatz. Ein Antreiber übelster Sorte. Als mehr auf unserer Seite stehendes Aufsichtspersonal sind noch aufzuzählen der Batl. Führer Weier und die Kp - Führer Richter und Stricker. Leider hatte die 10. Kp mit letzterem einen schlechten Fang gemacht. Doch über seine Heldentaten an anderer Stelle. Die Arbeit des Schienenhebens dauerte nun bereits Wochen. Nachdem Anfang Mai der letzte Schnee weggetaut war, schien mit schönem Wetter der Sommer gekommen. Aber nur scheinbar. Am 15. Mai gab es einen Witterungsumschwung. Am 17. erlebten wir an der Baustelle "neue Brücke", 25m über der Scheksna einen Schneesturm, wie wir ihn nicht einmal im Januar erlebt hatten. Und ausgerechnet bei diesem Sauwetter kommt die Lore mit den beiden Essenkübel heraus, mit einer prächtigen Erbsensuppe, natürlich kalt. Und 10 m dahinter kommt unser neuer Batl. Führer mit dem Befehl der russischen Lagerkommandatur, Einrücken wegen zu schlechtem Wetter. Zähneknirschend und mit einer unbändigen Wut assen wir das kalte Zeug, immer wieder uns fragend, konnte der Trottel, wenn wir schon einrücken mussten, dass Essen nicht drinnen und warm halten. Ich sprach gerade von unserem neuen Batl. Führer und komme damit auf Vorgänge zu sprechen, die sich in den letzten Wochen im Lager abspielten. Weier, Richter und andere hatten sich durch ihre Haltung den Zorn der deutschen und russischen Lagerleitung zugezogen und es bedurfte nur eines geringen Anlasses, sie aus dem Weg zu räumen. Die Gelegenheit bot sich bald. Auch in unserem kleinen Lager war der Befehl aus Moskau angelangt, das Stabsoffiziere nicht mehr arbeiten dürfen und in gesonderten Lagern wie z.B. unser altes 150 untergebracht werden sollten. Wir mussten Abschied nehmen von Major Linke, Major von der Sode und anderen, und wer eignete sich am Besten, diese ins Lager zurückzubringen? Doch nur die, die sich bereits unbeliebt gemacht hatten. Im Mai verliessen uns also 11 Kameraden, nicht ohne uns zum Abschied alles Glück und gute Heimkehr zu wünschen. Meinen Kommandeur, Major Linke, sah ich bei dieser Gelegenheit zum letzten Mal. Ende Mai, Anfang Juni stellte sich dann endlich der Sommer ein, völlig übergangslos, wie in diesen Breiten üblich. Arbeiteten wir beispielsweise gestern noch zitternd und frierend im eisigen Wind, schien heute die Sonne bereits so heiss, dass wir mit blossem Oberkörper arbeiten konnten. Unsere Beschäftigung, Schienenheben und Sandzüge abladen ging weiter. Noch meterhoch musste der Damm wachsen. Neu arbeiteten bei uns russische Eisenbahnpioniere, die die schwierigeren Arbeiten machten. Zwei von ihnen, die Sergeanten Mischka und Andrejew beaufsichtigten uns beim Schienenheben, gaben Anweisungen, wie hoch die rechte und die linke Schiene gehoben werden müssten, wie der Sand unter den Schwellen zu stopfen ist usw usw. Sie waren beide uns ziemlich sympathisch und der eine von ihnen, Mischka, wurde etwas mit mir befreundet. Wir konnten uns zwar nicht verständigen, sassen aber manchmal in den Pausen zusammen und tauschten Tabak und Machorka aus. Dies besonders, als er entdeckt hatte, dass ich ihn bei seiner Arbeit vertreten konnte. So lag er oftmals irgendwo im Schatten und schlief, während ich das Schienenheben leitete. Was mir den Übernamen "Schienenblick" einbrachte. An dieser Stelle möchte ich etwas über das grosse Projekt, an dem wir arbeiteten, berichten. Die Eisenbahnlinie Wologda - Leningrad überquert an dieser Stelle die Scheksna, ein wichtiges Bindeglied im Flusssystem zwischen Eismeer und Wolga. Sie überquerte den Fluss auf der sogenannten alten Brücke, die angeblich im ersten Weltkrieg durch deutsche und österreichische Kriegsgefangene erbaut wurde. Nun spannten sich ihre Brückenbogen zu niedrig über dem Wasserspiegel, der durch einen Damm viele 100 km südlich bei Rybinsk auch hier noch um viele Meter ansteigen würde. Somit für die Schifffahrt ein Hindernis. Aus diesem Grunde war 1940/41 eine neue Eisenbahnbrücke mehrere km unterhalb der Alten erbaut worden und mit einer neuen ca. 5 km langen Eisenbahnlinie verbunden. Als wir an diesem Projekt angesetzt wurden, hatte der Damm, auf dem in Zukunft die Züge fahren sollten, noch nicht seine endgültige Höhe erreicht und es mussten noch viele Sandzüge kommen und abgeladen werden, bis der erste Personenzug die Strecke passieren konnte. Wie ich bereits Eingangs erwähnte, war die Arbeit für unsere beiden Kompanien geteilt worden. Dammbau und Schienenheben einerseits, Steine suchen, zerschlagen und pflastern andererseits. Es zeigte sich aber bald, dass das Schienenheben auch mit wenigeren Leuten ausgeführt werden konnte. Andererseits reichten die vorhandenen Steine für die Pflasterung nicht aus. Insbesondere auch deshalb nicht, weil auch der Damm einer Brücke über der Ugla, einem Nebenfluss der Scheksna, zusätzlich ebenfalls gepflastert werden musste. In Zukunft wurde deshalb stets ein Zug unserer Kompanie zu den Steinen abgestellt. Wir mussten Zubringerdienste für unsere Schwesterkompanie machen. Zunächst schleppten wir mühselig die Steine der näheren Umgebung mittels Tragen zur Pflasterstelle. Oder wir sammelten sie beidseitig der Geleise, oder fuhren mittels LKW ins Gelände und sammelten Steine, wo welche zu finden waren. Nun muss man wissen, dass wir uns in einer Art Tundra befanden und das es sich bei den Steinen um sogenannte Findlinge handelte, grosse Steinbrocken, die irgendeine Eiszeit irgendwann dort abgeladen hatte. Leider nicht so zerkleinert, dass sie transportierbar waren. Das bedeutete, dass wir mit schweren Hämmern die Findlinge soweit verkleinern mussten, dass sie transportierbar und pflasterbar wurden. Unsere Suche nach solchen Steinen dehnte sich bald in eine Gegend aus, nur mit dem LKW erreichbar, wo eine der seltsamsten Einrichtungen der damaligen Sowjetunion, die sogenannten Kinderlager, zu finden waren. Sie mit westlichen Waisenhäuser zu vergleichen, trifft nicht den Kern der Sache. Arbeits - oder Erziehungs - oder Besserungslager auch nicht ganz. Es waren dort elternlose Kinder von 5 - 18 Jahren aus aller Welt untergebracht oder besser hinter hohen Stacheldrahtzäunen versorgt. Bewacht und erzogen wurden sie durch Ausbilder der roten Armee, angelernt in eigenen Werkstätten für handwerkliche Berufe durch deutsche Kriegsgefangene. Diese, in der Mehrzahl Mannschaftsdienstgrade, erzählten uns manches von ihrem nicht ungefährlichen Dienst. Diese Kinderlager wären die reinsten Verbrecherschulen. Von Taschendiebstählen bis zu Raubüberfällen war alles vertreten. Wehe dem Ausbilder, Deutschen oder Russen, der die Pfeife im Mund, sorglos dem munteren Treiben der Kinder zuschaute. Er musste noch froh sein, wenn nur die Pfeife und nicht die Zähne ihm aus dem Mund gerissen wurde. Oder Kleidungs - oder Ausrüstungsstücke. Sie verschwanden spurlos und via Stacheldraht tauchten sie in der nächsten Ortschaft auf dem schwarzen Markt wieder auf. Gefiel den lieben Kleinen das Essen nicht, stürmten sie kurzerhand die Küche und schlugen alles kurz und klein, den Koch halbtot und die Aufseher mussten noch froh sein, selbst nicht angegriffen zu werden. Zwar waren sie bewaffnet, aber was hätte dies genutzt gegen eine halbe Hundertschaft wildgewordener Tiere. Wenn diese Kinderchen dann das nötige Alter erreicht hatten, kamen sie zur weiteren Ausbildung in die rote Armee und damit nach Deutschland. Dieses Steinesammeln leitete der bereits erwähnte Smirnow, ursprünglich selbst als armseliger Steineschläger sein Dasein fristend, machte er bald als Gefangenenantreiber Karriere. Welch erbärmliches Dasein er dazumal führte, erhellt blitzlichtartig eine kleine Episode. Wir fuhren, es mag vielleicht Anfang Juli gewesen sein, mit dem LKW nach der Arbeit zurück, zur Unterkunft. In dem Moment, als ich die fertig gerauchte Zigarette wegwerfen wollte, legte sich eine Hand auf meine Schulter. Umdrehend sah ich Smirnow, seine Hand nach meiner Kippe ausstreckend. Ich gab sie ihm, nicht ohne ein Gefühl der Überlegenheit des rechtlosen Kriegsgefangenen über das noch erbärmlichere Mitglied der Siegerstaaten. Freilich dauerte dieser Zustand nicht all zu lang. Bald fuhr Smirnow nur noch im Führerhaus des LKW und entwickelte sich zu einem ganz brauchbaren Antreiber. Diese Suchaktionen nach Steinen dehnten sich mit der Zeit immer weiter aus und bald kamen wir Scheksnaaufwärts zu einer wahren Fundgrube von Findlingen. Sie lagen am Ufer des Flusses, auf einer grossen, etwas sumpfigen Wiese, wild im Gelände verstreut. Hier verlebten wir mehrere muntere Wochen, die täglich mit einem Bad im Fluss beendet wurden. Eines Tages, ich hatte mein sogenanntes Handtuch zum Trocknen über einen Busch ausgebreitet, hatte ich nicht auf die in der Nähe weidenden Kühe aufgepasst. Ein Ruf machte mich aufmerksam und hinter der Kuh herrennend, die meinen kostbaren Besitz im Maul hatte, war das Werk eines Augenblicks. Das arme Tier stürmte angstzitternd durch das Gestrüpp und ich schreiend und brüllend hinterdrein. So ging die wilde Jagd etwa 5 Minuten, bis ich mein Tuch wieder hatte und das arme Tier in sicherer Entfernung zur Ruhe kam. Die Kameraden aber krümmten sich vor Lachen. Mitte Juli trat dann wieder eine Änderung im Lagerleben ein. Es wurde ein Kommando zum Stammlager 158-1 zu dem wir jetzt auch offiziell gehörten, aufgestellt. Dabei waren natürlich die Aufsässigsten und Störrischsten. Als einer, der sich unbeliebt gemacht hatte, schied auch Karl-Heinz Weiss aus unserer Mitte. Dabei war auch wegen Unfähigkeit der Batl. Führer Happ. Mein neuer Nachbar wurde nun Günter Magsaam. Er hatte kurz nach unserem Eintreffen in Scheksna eine schwere Lungenentzündung und schwebte tagelang in Lebensgefahr. Mehrere Wochen anschliessend als Küchenkontrolloffizier hatten seinen Gesundheitszustand so weit verbessert, dass er bei der letzten Kontrolluntersuchung wieder arbeitsfähig geschrieben wurde. So landete er in unserer Gruppe. Ach ja, Arbeitsgruppen-Untersuchungen. Ein Kapitel für sich, das ich am Besten an dieser Stelle schildere. Denn hier in Scheksna erlebten wir erstmalig diese Prozedur. Sie wurde gewöhnlich Mitte Monat durchgeführt, musste nach Moskauer Befehl bis Ende Monat abgeschlossen sein und ihr Ergebnis den höheren Dienststellen gemeldet. Wir wurden alphabetisch aufgerufen, traten mit entblösstem Oberkörper vor die russische Ärztin und liessen auf Aufforderung, meistens auch ohne, die Hose herunter und drehten uns um. Daraufhin kniff uns die Dame ins Hinterteil, nannte dem Schreiber eine Zahl und fertig war die Prozedur. Der Nächste bitte. Später schrieb sie selber ihren Befund auf die entsprechende Karteikarte. Von dieser Zahl hing in den nächsten Tagen und Wochen Arbeitseinsatz und Verpflegung ab. In Anbetracht der Wichtigkeit der Untersuchung lauschten wir begierig und versuchten die Zahl auf dem Karteiblatt zu entziffern. Oder baten den Hintermann, dies für uns zu tun. Mit den ermittelten Arbeitsgruppen hatte es nun folgende Bewandtnis:
Gruppe 1 war normal arbeitsfähig
Gruppe 2 war schwach, aber noch gesund
Gruppe 3 war sehr schwach, doch gesund, oder auch invalid
Gruppe OK4 war krank und schwach
Gruppe OK2 war krank und sehr schwach
Gruppe OK0 war sehr krank, sehr schwach, halbtot

Alles was noch darunter lag kam sofort ins Lazarett. Wie freilich die Ärztin durch einfaches Kneifen diese Gesundheitsunterschiede herausfinden konnte, habe ich bis heute nicht begriffen. Arbeitsmässig bedeuteten die einzelnen Gruppen:
Gruppe 1 Arbeit 8 Std ausserhalb des Lagers bei voller Leistung
Gruppe 2 dito bei Zweidrittel der Leistung
Gruppe 3 dito bei halber Leistung
Gruppe OK4 leichte Lagerarbeit während 4 Stunden
Gruppe OK2 dito während 2 Stunden
Gruppe OK0 keinerlei Arbeit

Verpflegungsmässig berechtigten die Gruppen OK2 und OK0 zum Empfang der sogenannten Dystrophie - oder Aufbaukost, deren Niveau wesentlich über dem normalen Lageressen lag.

Im August begann für uns arbeitsmässig ein neuer Abschnitt. Die Schienen lagen soweit richtig, nur der Anschluss an das Hauptgeleise fehlte noch. Es kam aber noch zu einer grossen Verzögerung, mit der die Bauleitung sicher nicht gerechnet hatte. In der Nähe der Haltestelle Scheksna führte die neue Gleisanlage durch eine tiefe Schlucht, an dessen Hang eine Häusergruppe stand. Dieser ganze Berg ruhte nun auf einer schräg zur Bahnlinie abfallende Tonschicht, die sowohl durch längeres Regnen, wie eventuell auch durch eine unterirdische Wasserader geschmiert wurde. Jedenfalls, als wir an einem Sonntag, natürlich an einem Sonntag, gerufen wurden, lagen bereits die ersten Lehmbrocken auf den Geleisen und der Berg drohte, alles zu begraben. Es begann der Kampf Mann gegen Berg. Das, was wir tagsüber freilegten, schüttete der Berg in der Nacht wieder zu. Als ob er nur mit den kleinen Menschen spielte. Die ersten Wochen luden wir den Lehm auf Wagons, die ein Triebwagen zum Damm brachte, wo wir wieder abluden. Aber es gab keine Fortschritte. Durch Stellen von mehr Wagons glaubte Iwan, die Arbeit zu forcieren, musste aber bald einsehen, dass mehr als 6 Wägen gar nicht miteinander beladen werden konnten. Erst Anfang September, das Hoffnungslose seiner Planung einsehend, hörte er auf unsere Vorschläge. Und erzielte mit ihrer Verwirklichung bald greifbare Resultate. Die Wagons blieben in Zukunft zu Hause. Wir hoben die Erde aus und schafften sie mittels Tragen auf die andere Seite der Schlucht und ins freie Gelände. Zwar war dieses Tragen zu Zweit ein Mehrbelastung, vermied aber den Leerlauf der Wagonarbeit. So trabte man nun von morgens bis abends mit seinem Vorder- oder Hintermann die Trage haltend, 50 m hin, 50 m zurück. Eine stumpfsinnige Tätigkeit, und das nicht nur tage. sondern wochenlang, auch Sonntags. Da war die Erfindung unseres Ratespiels eine willkommene Ablenkung. Es konnte von 2 bis unendlich vielen Spielern gespielt werden, ohne die Arbeit zu beeinträchtigen. Ein Mitspieler dachte sich etwas aus, z.B. eine römische Göttin, Diana. Mit dem ersten Buchstaben "D" bildete er nun Hilfsrätsel, deren Lösung diesen Buchstaben als Anfangsbuchstaben ergaben, z.B. männlicher Vorname wie "Dieter" oder eine Handwaffe wie "Degen". Fünf Hilfsrätsel wurden genannt. War der erste Buchstabe nicht gefunden, folgten Hilfsrätsel für den Zweiten usw. usw, bis "Diana" gefunden war. Selbstverständlich durfte der Ausdenker auch nachträglich sein Wort ändern und durch ein analoges ersetzen. Z.B. eine deutsche Stadt "Dortmund" durch "Düsseldorf" usw. usw. Er verneint also beim Finden von "D" und "Dortmund", da er sich jetzt "Düsseldorf" als Lösung gedacht hat. Dieser Wechsel war erlaubt und brachte viel Leben in das Spiel und in unsere eintönige Arbeit. Mitte September erhielt ich eine angenehme Überraschung. Beim Appell wurde mein Name aufgerufen und auf der Schreibstube erfuhr ich, dass ich mich für ein Kolchosenkommando fertig machen müsste. Auf zur Kartoffelernte. Gott sei Dank, endlich aus der Schlucht heraus. Am späten Nachmittag enterten wir 15 Mann mit 2 deutschen Hilfsposten und "Rucksack" im Führerhaus den LKW. Wir hatten im Lager ausser dem russischen Lagerkommandanten noch 2 Zähloffiziere. Der eine, polnischer Typ. Kunstmaler aus Leningrad im Zivilberuf, war Reserveoffizier und sehnte nichts so sehr wie seine Entlassung herbei. Er war uns gleich von Anfang an sympathisch mit seinen kurzen Zählappellen und seiner Freundlichkeit. Der andere war eben Rucksack. Woher er seinen Namen hatte, weiss ich nicht. Wahrscheinlich hatte sein zerknittertes Gesicht und sein Wesen dazu beigetragen. Er sah eben aus wie ein Rucksack. Seine von ihm abgehaltenen Zählappelle waren endlos. 2,3,4 mal zählte er durch und kam immer zu einem anderen Ergebnis. Dann wurde die Mütze in den Nacken geschoben und kopfgerechnet. Wie schwer ihm dies fiel, konnte man seinem Gesicht unschwer ablesen. Und alle, die Lagerleitung, wir und nicht zuletzt er atmeten auf, wenn endlich die Rechnung aufging. Anfangs hielten wir seine Art für Schikane, mussten aber bald einsehen, das wir ihm damit Unrecht taten. Dieser russische Offizier begleitete nun unser Kommando zur Kolchose. Dichtgedrängt standen wir 17 auf dem offenen LKW, zwischen Strohsäcken, Decken und Proviant für 10 Tage. Unglücklicherweise war an Stelle von Fett Oel mitgeliefert worden. Und ich hatte das Pech, die oben offenen, bis zum Rand gefüllten Büchsen zu tragen. Dabei ging es in wilder Fahrt über die bekannten russischen Strassen, über Schlaglöcher, Gräben oder Querrillen hinweg. Schweissgebadet, trotz der bereits kühlen Witterung, war ich heilfroh, als kurz vor unserem Ziel das Auto im Morast stecken blieb und wir zu Fuss weiter mussten. 5 Mann mit einem WK, wie die Abkürzung für die deutschen Hilfswachtposten lautete, trennten sich von uns und gingen zur Nachbarkolchose. Wir restlichen 10 mit dem zweiten WK kamen zur Kolchose 17, im Gefangenenjargon "Hungerkolchose" genannt. Bei uns bestand dieser Name nicht zu Recht, wie die nächsten Tage bewiesen. Einquartiert wurden wir in einem Bauernhaus, dessen zahlreiche Bevölkerung, Grossmutter, Mutter und Kinder, in einen der drei Räume verbannt wurden. In den restlichen zwei Zimmern richteten wir uns mit Strohsäcken und Decken häuslich ein und stellten einen Koch zum Kochen ab. Aber das Essen wollte nicht kommen. Woran dies lag, erfuhren wir bald. Am fehlenden Holz. Erst nach längerem Kampf gab uns der Dorfälteste, einer der drei Männer in der Ansiedlung ein abbruchreifes Haus zum Verheizen frei. Leider musste dieser Kampf täglich durchgestanden werden. Nicht zu glauben, aber es gab in diesem Dorf bei Anbruch des Winters kein Holzvorrat, und das in einer Gegend, wo jeder Quadratmeter Ackerboden dem Wald abgerungen werden musste Die Hausbewohner, anfänglich sicher nicht entzückt über unsere Anwesenheit, erkannten bald die Vorteile, die sich für sie ergaben. Nicht nur, dass sie sich jetzt auch ein warmes Essen leisten konnten, das aus in der Glut gerösteten Kartoffeln bestand, brachten wir ihnen doch zusätzliche Nahrungsmittel ins Haus. So schleppten wir täglich einen Sack Kartoffel heim, von denen auch noch die Gastgeber satt wurden. Weiter organisierten wir aus den Magazinen Getreide, von den Feldern der Nachbarschaft Gemüse und gaben immer von unserem Überfluss ab. Eine wertvolle Bereicherung unserer Speisekarte ergab sich durch die Arbeit von 2 Kameraden, die als Tischler einen Kuhstall reparierten. Die dort untergebrachten Kälber wurden mit Magermilch aufgezogen. Sie haben sich sicher gewundert, warum ihre tägliche Kost so wässerig wurde. Dafür hatten wir öfter Milchsuppe. Unsere tägliche Arbeit bestand aus Kartoffelauflesen hinter dem Pflug, den ein etwa 17jähriger Junge führte. Da das Pferd stark ruhebedürftig war, erhielten wir zusätzliche Verschnaufpausen und legten überdies dem Bengel öfter ans Herz, dem armen Gaul eine Rast zu gönnen. Nur einmal bin ich bei der Arbeit ins Schwitzen gekommen, und zwar, als ich beim Dreschen helfen musste. Es ging dort alles in einem Tempo, von der Maschine vorgegeben, vor sich, dass ich abends wie gerädert aufs Stroh sank. Froh, anderen Tags nur wieder in die Kartoffeln zu müssen. Dabei wurde die Drescharbeit nur von Mädchen und Frauen, singenderweise und ohne ein Zeichen von Anstrengung durchgeführt. Doch leider hatte alles einmal ein Ende. So schnell, wie das Idyll begonnen hatte, endete es auch. Am 5. Oktober, spätabends, kam der "Kaiser von China" und holte uns noch in derselben Nacht ins Lager zurück. Diese erlauchte Persönlichkeit war ein WK aus Süddeutschland, von Beruf Frisör. Sein Pathos und angeberisches Wesen hatten ihm den Spitznamen gebracht. Seine Gesellenjahre über war er in der Schweiz gewesen und hatte sich anschliessend in Offenburg selbstständig gemacht. Nur das er jetzt statt seiner schwäbischen Kunden unsere Gesichter mit seiner seidenweichen Hand malträtierte. Bei seinem Eintreffen bei uns sagte er, dass er nur wenig Zeit hätte und auch noch die anderen Kolchosenkommandos informieren müsste. Doch störte ihn das nicht, zu warten, bis unser Koch das Essen aus sämtlichen vorhandenen Vorräten fertig hatte. Und es hatte sich viel für unsere Abschiedspartie angesammelt. Zum Essen liess er sich nicht zweimal nötigen und frass, das ihm fast die Augen übergingen. Doch war soviel vorhanden, dass wir nicht alles schafften und für unsere Wirtsleute noch viel übrig blieb. Noch bei Dunkelheit verliessen wir das Haus, gesegnet von dem alten Mütterchen, und marschierten über den bereits hartgefrorenen Boden ins Lager. Der Kolchosenvorsitzende hat sicher morgens grosse Augen gemacht, als er das Nest leer fand. Ohne Hilfe dazustehen, während noch über die Hälfte der Kartoffeln im Boden war.

Jetzt wird es langsam Zeit, über einen Faktor zu berichten, der das Leben im Lager sehr erschwerte, ja, manchmal zur Hölle machte. Die Feierabend- und Sonntagsarbeiten. Wie ich schon einmal erwähnte, gingen die zusätzlich anfallenden Arbeiten reihum. So das bei 6 Zügen der beiden Kompanien wir wöchentlich einmal an der Reihe waren. Da galt es nun, Holz von dem etwa 1 km entfernten Holzplatz für die Küche zu holen, Brot aus der Bäckerei oder Lebensmittel aus dem Magazin usw. usw. Das waren aber nun nur die regelmässig anfallenden Arbeitsdienste. Dazu kamen dann noch die Sandzüge, die zum Abladen mit Vorliebe sich die späten Abendstunden aussuchten. Dazu kam vor dem 1. Mai die Lagerverschönerung. Gar nicht zu reden von Baden und Entlausen, das grundsätzlich nur nachts durchgeführt wurde. Dann die Sonntagsarbeiten. Ich erinnere mich an keinen Sonntag in diesem Sommer, an dem wir nicht zur Arbeit aufgeboten wurden. Einzige Ausnahmen waren der 1. Mai und Pfingsten. Die Bahn arbeitete freilich an den Sonntagen nicht. Aber der Russe brauchte Geld und so wurden wir an andere Unternehmungen verschachert. In der Hauptsache war dies das Ernährungsamt der nächsten Stadt. Da galt es, Wagons mit Lebensmittel, mit Getreide, Schiffe mit Salz oder anderem auszuladen. Vor allem aber Flösse aus dem Wasser ziehen. Oder aber es kam ein demontiertes deutsches Sägewerk in grossen Wägen an und musste abgeladen werden. Was nicht schon defekt ankam, überstand unser so sorgfältiges Abladen dann auch nicht mehr. Oder die Stadt reinigte ihre Strassen und Kanäle. Für alles waren wir da. War es ein Wunder, das bei solchen Beanspruchungen die Maschine Mensch schwächer und schwächer wurde? Das Herz nicht mehr mitmachte. Beim Einen mehr, beim Anderen weniger ausgeprägt. Die Einen nur aussergewöhnlich nervös und gereizt, die Anderen mit Herzfehler rumliefen. Dies trotz der damals sicher nicht schlechten Verpflegung. Daran vermochten so freudige Ereignisse wie Postempfang wenig zu ändern. Am 10. Oktober hatten wir dann unseren grossen Tag. Um 9 Uhr wurde die alte Eisenbahnlinie gesperrt, mit grossem Tempo die Geleise verlegt und der neue Anschluss geschaffen. Gegen Mittag fuhren 2 Loks zur Probe und kurz danach die ersten fahrplanmässigen Züge. Das Werk vieler Tage und Wochen krönend. Es gab zwar auch in Zukunft noch manches am Oberbau und in der Schlucht zu tun. Doch dauerten solche Arbeiten nur Tage, manchmal nur Stunden. Die weitere Arbeit für uns war bei den Steinen. Es mag Mitte Oktober gewesen sein, als eine Hiobsbotschaft uns erreichte. Es wurde bekanntgegeben, das auf Grund der schlechten Ernte die Verpflegung herabgesetzt würde. Brot von 600 auf 500g, Nährmittel von 160 auf 120g. Das Schlimmste aber dabei war, das dieser Erlass ab 1.Oktober galt. Also rückwirkend. Alles, was wir im Oktober zuviel erhalten hatten wurde abgezogen. Verbunden mit der äusserst schweren Arbeit und der zunehmenden Kälte war dies eine bedenkliche Massnahme. Ja, damit noch nicht genug, wurde Anfang November weiter gekürzt. Z.B. das Brot auf 400g täglich. Die damit verbundenen Abbauerscheinungen an unseren Körpern mussten wir ohnmächtig mit ansehen. Wir arbeiteten am Damm der neuen Brücke und suchten Steine unter der Schneedecke. Steine, von denen wir niemals genug finden konnten. Da die Gegend bald restlos von Steinen abgegrast war, die gerade noch von 4 Mann getragen werden konnten, mussten wir uns jetzt an die grossen Steine machen, die Findlinge. Da diese mit ihren vielen Zentner Gewicht nicht tragbar waren, mussten sie eben zerschlagen werden. Dieses Steineschlagen war bald meine bevorzugte Tätigkeit, in der ich eine beachtliche Routine erlangte. Entsprechend der Aderung der Steine wusste ich in etwa, wo mit dem geringsten Aufwand das beste Ergebnis erzielt werden konnte. Aber alles zu Lasten meiner Gesundheit. Man mag jetzt fragen, warum wir, wenn der Russe so wenig zum Essen gab, soviel arbeiteten. Die Antwort ist einfach, der Grund war die Kälte. Da stand man nun 8 Stunden im Schnee, Eis und Sturm, ohne Schutz. Ohne Bewegung wären wir erfroren, ohne Arbeit die Zeit noch endloser geworden. Vielleicht ist es an dieser Stelle angebracht, einen dieser trostlosen November - oder Dezembertage im Detail zu schildern.

5 Uhr wecken. Unausgeschlafen richten wir uns auf der Pritsche auf. Im dunklen Raum flackert bald hier, bald da ein armseliges Lichtlein auf. Der Tag beginnt. Als Verpflegungsteiler eile ich zum Waschen. Dann das Brotbrett hervorgeholt, Brotempfang. Nachdem jeder seine 300g hat, ist es wieder Zeit zum Suppenempfang.

Magsaam bringt mir das ständig dünner werdende Zeug. Alles ist gegessen, eine Zigarette geraucht und bereits heisst es wieder "Fertig machen zum Antreten". 60 Mann ziehen in grösster Enge Filzstiefel, Mäntel, Pelze und Mützen an. Seit einigen Tagen trage ich, kunstvoll gefaltet, zusätzlich unter dem Mantel eine Decke. Dann darüber den Pelz. Ich habe herausgefunden, das dadurch die Auskühlung des Körpers beträchtlich hinausgezögert wird. Antreten am Tor, getrieben von den deutschen Zugführer und dem russischen Offizier. Zunächst, im Windschatten der Häuser vor dem Tor scheint es gar nicht so kalt zu sein. Aber wehe, wenn der Bahndamm erreicht war und der eisige Wind einem ins Gesicht pustete. Und die Stubenwärme langsam aus den Kleidern wich. Da kroch die Kälte den Rücken hinauf, setzte sich in den Händen fest. Kamen wir dann glücklich und ohne Stockung an der 3 km entfernten Baustelle an, im allgemeinen brachen mehrere Kameraden bereits auf dem Hinweg zusammen, ging es an die Arbeit. Erst Werkzeugempfang. Es ist mir unmöglich, den schweren Hammer in den eiskalten Händen zu halten. So nehme ich ihn unter den Arm und pilgere zu dem Felsbrocken, den ich bereits gestern und vorgestern mit Schlägen vergeblich bearbeitet habe. Von irgendwo kommt die Stimme des Zugführers, Uhrzeit und Arbeitsbeginn ansagend. Ich will den Hammer schwingen, kann es aber nicht. Kann ihn nicht halten. Immer wieder suchen die Augen die paar dunklen Gestalten in der weissen Einöde, die wirr durcheinander laufen, ab und zu sich bücken. Es sind unsere Feuermacher, die Holz suchen. Seit dem der Russe Wärmefeuer erlaubt hat, stellt der Zug täglich einige Leute ab zum Feuer machen. Die Posten sind begehrt. Und auch wieder nicht. Was es heisst, mit erstarrten Händen und meist nassem Holz, meistens sogar ohne Handschuhe, Feuer zu machen, kann nur der ermessen, der jemals in einer solchen Lage war. Freilich, brennt es einmal, dann sind sie die Ersten, die sich wärmen können. Sind aber auch diejenigen, die es 8 Stunden unterhalten müssen, immer wieder auf der Holzsuche. Endlich kräuselt sich etwas Rauch und schon sind wir da. Um das Feuer geschart, kniend halten wir die Hände in die Flamme, dankbar für jedes Gramm Wärme. Dann erscheint meistens der Kompanieführer und es gibt den immer wiederkehrenden Streit. Er hat ja Recht, wenn er uns Vorhaltungen macht und darauf hinweist, dass das Aufwärmen während der Arbeit verboten ist und das wir Gefahr laufen, die Erlaubnis zum Feuer machen überhaupt zu verlieren. Wir sind natürlich auch nicht im Unrecht, wenn wir darauf hinweisen, dass mit erstarrten Händen kein Hammer gehalten werden kann. Sind die Hände dann etwas aufgetaut, wird noch schnell eine Zigarette gedreht und nach Möglichkeit am Feuer geraucht, dann geht es zurück zum Stein und mit neu erwachter Energie werden die nächsten Stunden buchstäblich totgeschlagen. Gegen 2 Uhr, nach 6 Stunden Arbeit, ist es aber aus. Trotz häufigen Aufwärmpausen kühlt der Körper aus, wird steif, die Schläge werden seltener. Die Zeit vergeht langsamer. Die letzte Stunde ist neben der ersten die Schwerste. Immer und immer wieder wird nach der Uhrzeit gefragt. Der Sonnenstand beobachtet, soweit natürlich sichtbar. Wir wissen, wenn sie untergeht sind es 16 Uhr und Feierabend. Endlich, endlich ertönt der so heiss ersehnte Ruf "Arbeit einstellen fertig machen zum Einrücken". Da fliegen die Werkzeuge in den Schuppen, da gibt es keinen, der nicht im Eiltempo zur Sammelstelle eilt. Sogar der russische Posten ist froh, dass er heimkehren kann. Sein Zählen ist schneller als üblich und auf das erlösende "Dawei" gehts fast im Laufschritt über Eis und Schnee. Während wir hinzu auf der Bahnlinie gingen, nehmen wir zurück den längeren Weg über den Fluss, am Holzplatz vorbei. Einen Holzprügel mitgenommen, im Lager hingeworfen und es empfängt uns wohlige Wärme, eine dampfende Suppe und 100g Brot. Auf der Baustelle erloschen die Feuer, der langsam fallende Schnee tilgt unsere Spuren. In dieser Art und Weise ging ein Tag nach dem anderen dahin, deutliche Spuren an unseren Körpern hinterlassend. Zu allem Überfluss holte ich mir noch eine schwere Darmerkältung, die sich auf der Baustelle leider unliebsam bemerkbar machte. Es war nämlich gar nicht lustig, sich alle 10 Minuten aus der Verschalung zu schälen und "stehend freihändig" im scharfen Wind und bei -30 Grad sein Geschäft zu erledigen. Da war es kein Wunder, das Ergebnis der nächsten Arbeitsuntersuchung. Am 15. November wurde ich Gruppe 2, am 15. Dezember Gruppe 3 und bei einer Nachuntersuchung am 18.12. sogar OK4. Trotzdem ging es weiter zur Arbeit. Zwar nicht mehr zur Baustelle am Damm, sondern 4 Stunden zum Kinderlager, noch etwas weiter entfernt. Hier waren Holzsägen und Erdarbeiten in der, in einer Kirche untergebrachten Kraftstation meine Tätigkeiten. Wie kräftig ich trotz allem noch war, zeigte sich bei der Arbeit. Mein Partner brach mit schweren Herzbeschwerden zusammen, einen anderen Kameraden, Fritz Jäger, schleppte ich bei wildem Schneesturm die 5 km ins Lager, während in der Ferne die Wölfe heulten. Erst ein erneuter schwerer Durchfall gestattete mir dann, im Lager zu bleiben, wo ich noch Weihnachten mitfeiern konnte. Am 3. Feiertag kam die Erlösung. Mit etwa 10 anderen Kameraden, ebenfalls völlig entkräftet, fuhren wir abends mit dem fahrplanmässigen Zug nach Tscherepowietz, dem Lager 158-1, dem Stammlager. Es mochte etwas vor Mitternacht sein, als wir nach wenigen Stunden Eisenbahnfahrt auf einem grossen Bahnhof ankamen. Tscherepowietz zeigte das Schild an, das wir rasch passierten, auf den Schienen vorwärts stolpernd. Zunächst ein gutes Stück längs des Bahndamms, über Brücken, auf Feldwegen und durch Dörfer standen wir endlich in der Dunkelheit vor einem grossen Tor. Mürrisch trat die Wache aus der warmen Stube, uns einlassend. Noch einmal die gleiche Prozedur an einem zweiten Tor und wir waren in einem Lager, dessen regelmässige Barackenreihen uns seltsam vertraut vorkamen. Es war eben dieselbe Atmosphäre, die wir vor einem halben Jahr verlassen hatten, um in der Knochenmühle der Eisenbahnbaukompanien zermahlen zu werden. Und um endlich als menschlicher Schrot ausgespuckt zu werden. Wir wurden für diese Nacht im Bad untergebracht und verbrachten dort auch den folgenden Vormittag. Endlich nach dem Mittagesse baden, entlausen, Wäschewechsel. Darauf Arbeitsgruppenuntersuchung. Von uns 12 Mann kamen 3 gleich ins Lazarett, 8 wurden OK (arbeitsunfähig) geschrieben, nur einer war noch bedingt arbeitsfähig. Das war aber ich nicht. Die letzten Tage des Jahres 1946 und die ersten des neuen Jahres verbrachten wir in zwei dunklen, halb leeren Baracken. Für Vieh wären es schlechte Ställe gewesen. Dort lagen wir nun, trotz reichlichem Platz eng aneinander geschmiegt, so Schutz vor der Kälte findend. Die Verpflegung war gut, wir erhielten ja ausnahmslos Dystrophiekost, was Aufbaukost mit Weissbrot bedeutete. Nach und nach kamen andere Transporte abgewirtschafteter Kameraden aus anderen Aussenlagern herein und wurden in unsere Baracke gelegt. Was man da an lebenden Skeletten sah, war unglaublich. Am Schlechtesten sahen die Leute aus dem Torflager aus. Sie waren 160 km auf offenen Güterwagen transportiert worden, wobei unterwegs ein Mann erfroren war, und nun schleppten sie sich apathisch und teilnahmslos durchs Lager ins Bad. Von ihnen mussten 60 -80 % gleich ins Lazarett, einige so schwere Fälle, das die deutschen Ärzte an ihrer Genesung zweifelten. Einer von ihnen war taubstumm geworden, ein anderer erblindet. Nach wenigen Tagen kamen wir dann alle in eine helle, etwas freundlichere Baracke und hier beginnt eine neue, eine ganz interessante Zeit, meine OK - Zeit. Willi Iserloh war unser Barackenältester, ein Wuppertaler. Er hielt strenge Disziplin, Zucht und Ordnung, war aber immer noch Mensch, mit dem man reden konnte. Wenn auch selber Mannschaftsdienstgrad, war er uns Offizieren gegenüber von einer wohltuenden Loyalität. Ihm zur Seite Walter Mokros, sein Gehilfe. Er wurde kurz nur immer Walter genannt und wir beide freundeten uns etwas an, wobei ich über ihn manches Geschäft tätigen konnte. Wir hatten ja überraschenderweise Geld bekommen, unseren Sold. Er besorgte mir Tabak, Kaffee und Zucker und ähnliches. In diesem Lager sollte ich nun die nächsten 18 Monate verbringen, bis zur endgültigen Heimkehr.

1. - 27.2.47

Umzug nach Lazarett 4/12.Kp Gruppenführer, Entwesung, Umzug innerhalb der Baracke, Kaminplatz, wärmer. Mit Zemlin, Zimmermann, Schwermann, Callas. Willi Iserloh Barackenältester. Lerne Walter Mokros kennen. Er besorgt mir Kaffee, Tabak, Rubel. Draussen sehr kalt, Kaminplatz ideal. Brot rösten. Wiedersehen mit Theo Krumeich, er liegt im Heldenkeller, furchtbare Unterkunft. Anfang Februar Umzug in Polenbaracke. Ganze Kp alle 5-10 Tage Untersuchung, OK , Rubelauszahlung (146.- ) Kaufe über Walter Machorka, Zigaretten, Kaffee, Kakao.

28.2.47

Geburtstag, feiere mit Walter und Theo bei Bohnenkaffee, Theo schenkt mir Morgensuppe, 1 Scheibe Brot, etwas Butter und Zucker.

1.3. - Ende Mai 47

Arbeitsgruppe OK2 wird zum Holztragen eingesetzt., März wieder OK2, Nachrichtenschreiber im Klub. Am 1.4. Umzug in Fichtel - Baracke. Fichtel, Barackenältester, prächtiger Mensch, wie ein Vater. Arbeite in Abortbrigade. 4 Std entleeren der Latrinen in Gräben. Schneeschmelze, Bekanntschaft mit Büs (Techn. Aufzeichnungen, PK - Getriebe). Am 23.4. wieder Untersuchung, Arbeitsgruppe 3, Schachnewitz, Off/Ing. Am 24.4. erstmalig in Schmiedehafen, Erdarbeiten, Brigade Zimmermann, ZbV, Zentralmagazin. 1.5. arbeitsfrei, Meeting, Urteilsverkündigung Fall Brummerhoff (Salz-Vergehen). Entlassungstermin für 31.12.48 (890 000 Kriegsgefangene), mit Zimmermann auf Kommando. Mit Volk Umzug nach Schiffkowitz-Baracke, erste Torten werden gebaut.

Kategorie: Erinnerungen von Kriegsgefangenen | Hinzugefügt von: Anatoli
Aufrufe: 605 | Downloads: 0
Kommentare insgesamt: 0

Werbung

  • Webseite erstellen
  • Dein Online Desktop
  • Kostenlose Online Spiele
  • Video Tutorials
  • uCoz Fan Page
  • Statistik


    Insgesamt online: 1
    Gäste: 1
    Benutzer: 0