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Herbert Thieß: Als Bauarbeiter in der Sowjetunion (Teil 2)
12.06.2013, 18:27

Leningrad

Die gesamte Anlage mit Planken eingezäunt, an den Ecken standen kleine Wachtürme, auf ihnen Frauen mit Gewehr als Posten. Ein eigenes kleines Lager innerhalb des Fabrikgeländes, mit Stacheldraht und eigenen Wachtürmen, nahm uns auf. Nur ein einziges Steingebäude befand sich darin. Wir richteten uns ein, so gut es ging. Zunächst hatten wir 14 Tage Quarantäne.

Mein Freund Ludwig aus München, von Beruf Revierförster, reiste damals als Maler. Während der Quarantänezeit erhielt er einen Auftrag in der Stadt und nahm mich, der ich von der Anstreicherei noch weniger Ahnung hatte als er, mit.

Ein russischer Zivilist mit Vogelflinte erwartete uns am Lagertor.

Nach Passieren der Fabrikwache führte er uns zur Haltestelle einer Straßenbahn. Dort standen Damen mit Seidenstrümpfen und Pelzen; wir rissen unsere entwöhnten Augen auf. Die Tram kam, bis zu den Trittbrettern voll von Menschen. Wir wagten uns nicht hinein und sie fuhr ab. Unser Konvoi wurde wütend und beschimpfte uns, wobei er mir einen Stoß in den Rücken gab. Ich wehrte mich dagegen und drohte ihm mit Meldung. Neuerdings ging er auf mich los. Da mischten sich mehrere Fahrgäste, die auch warten mußten, ein und nahmen für uns Partei. Die nächste Straßenbahn trug uns davon. Die Leute musterten uns aufmerksam, doch nicht feindselig.Bald stiegen wir aus und betraten eine Fabrik. Sie hieß "Flugow" und war ein Schwesterwerk des "Roten Oktober". Ein russischer Kapitän nahm uns in Empfang und wir beschwerten uns erst einmal gründlich über unseren Führer. Er nahm sich den Mann vor und von da an hatten wir Ruhe.

Es galt einen großen Saal, dessen Wände und Decke bereits ausgemalt waren, fertigzustellen. Der Kapitän wünschte einen Blumenfries als Abschluß der Wände. Er ließ uns ganz ungeschoren arbeiten. Aus Dachpappe fertigten wir uns eine Schablone an, ich zeichnete mit Bleistift vor und Ludwig malte mit Farbe hinterher. Unser Chef war ganz zufrieden, wir auch. So kamen wir als erste aus dem Lager in die Stadt.

Am nächsten Tag holte uns ein lustiges Mädel ab, es hieß Jelisaweta und war sich der Wichtigkeit seiner Aufgabe voll und ganz bewußt. Wir unterhielten uns gleich ganz nett und Jelisaweta hatte gar keine Angst vor uns. Das ging so einige Wochen ganz gut, bis wir keine Arbeit mehr hatten.Im Lager wurde eine Maler-Brigade zusammengestellt, wir meldeten uns gleich als Maler und Ludwig wurde Brigadeführer. Alle anderen Mitarbeiter hatten auch keine Ahnung von der Malerei.

Der erste Auftrag war das Ausmalen des Lagers. Farben und Pinsel gab es nicht, nur Kalk. Wir zerkleinerten also Ziegelsteine und rieben sie zu Mehl. Aus alten Bastmatten, in denen Fisch ins Lager geliefert wurde, fertigten wir Pinsel. Büchsen und Kübel fanden wir auch, da der Fabrikhof mit den Wracks Dutzender deutscher Wehrmachtsfahrzeuge bedeckt war. Je nachdem man dem Kalk mehr oder weniger Ziegelstaub zusetzte, gewann man verschiedene Nuancen einer rötlichen Farbe. Um nicht nur glatte Anstriche zu fabrizieren, nahmen wir alte Lappen, drehten sie zusammen und tauchten sie in die Farbe.

Dann wickelten wir diesen Lappen in unregelmäßigen leichten Bewegungen über die Wände. Anfangs gab es ein lebhaftes Durcheinander von kräftigen und schwachen Stellen, doch hatten wir den Bogen bald raus. Mit dieser neuen Methode, die wir in der Folgezeit zu hoher Blüte brachten, ernteten wir späterhin noch viel Lob.

Eines Tages rückte die ganze Brigade, 30 Mann hoch, aus zur ersten offiziellen Arbeit. Ein großes Wohnhaus in der Nähe des Lagers war auszumalen. Die Straße hieß Spaskaja.

Es gehörte schon eine Portion Frechheit dazu, einen solchen Auftrag anzunehmen, aber wenn es ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten gibt, dann ist es Rußland. Wir verließen später diesen Bau nicht mit Schimpf und Schande, sondern hatten einen guten Ruf als Maler.

Jedes Stockwerk bestand aus einem langen Gang, in den beiderseits die Türen zahlreicher Einzelzimmer mündeten. Die Zimmer waren verschieden groß. Die Gänge wiesen an drei Enden Wohnungen mit zwei kleinen Zimmern und am vierten Gemeinschaftsküche und -klosett auf. Für jede Familie war ein Zimmer gedacht, die Größe wurde nach der Kopfzahl bestimmt, wir sahen das Haus später auch in bewohntem Zustand. Zwei Treppenhäuser vervollständigten den Bau.

Der russische Meister hielt Werkzeug und Material unter Verschluß. Man kennt dortzulande keine Malerbürsten, sondern runde Pinsel von etwa lo bis 12 cm Durchmesser, die an langen Stielen befestigt sind. Mit diesen werden Decken und Wände gestrichen. Als Leim diente Kasein. Zunächst strichen wir die Decken mit der Hand. Da wir hier zum ersten Male offiziell mit den Arbeitsnormen in Berührung kamen, muß darüber einiges gesagt werden. Für jeden Beruf gibt es ein mehr oder weniger dickes Buch,das Normenbuch. In ihm stehen alle, auch die kleinsten Arbeitsvorgänge die vorkommen können, mit zulässiger Zeit und errechnetem Geldbetrag pro Einheit verzeichnet. Die Arbeitsleistung in acht Stunden muß mindestens l00 % betragen. Sie läßt sich an Hand der Normen leicht errechnen. Für uns waren die Prozente insofern wichtig, als wir bei voller Arbeitsleistung zusätzlich 200 g Brot pro Tag bekamen.Dabei wurde ein Unterschied nach Arbeitsgruppen gemacht: Erforderlich waren, um Brot zu bekommen, für Gruppe 1 - 101%, für Gruppe 2 - 76%, für Gruppe 3 - 51%.

Wir gehörten alle den Gruppen 1 und 2 an. Abends rechnete dann der Brigade-Führer mit dem russischen Natschalnik(= Meister) ab, jeder versuchte natürlich die Rechnung zu seinen Gunsten hinzubiegen. Teilweise war die Norm für uns, wenn man Arbeitsgerät, Unerfahrenheit und Körperzustand berücksichtigt, unerfüllbar. Wir halfen uns dann, wie es auch die Russen selbst taten, mit Schwindel,oder wo das nicht ging, nahmen wir niedrige Prozente in Kauf und bekamen eben kein Brot.

Die Kreide zum Beispiel mußte erst auf einem Herd getrocknet werden, sie bestand aus Brocken, die auf primitive Art mit Eisenrohren zu Pulver gewalzt wurden. Dabei waren keine Prozente zu holen. Vielfach machten diese Arbeit auch russische Frauen. Wir schnürten die Wände ab und begannen einige Probezimmer zu "wickeln". Die Russen waren begeistert. Kräftige und kontrastierende Farben hatten die größte Wirkung auf sie. Nach wenigen Tagen hatte ich mich so "eingewickelt", daß ich von da an hauptsächlich diese Arbeit machte, bis keine Flächen mehr zur Verfügung standen. Waren Russen zugegen, so wurde langsam gewickelt; andernfalls schnell, um Zusatzprozente für die Kameraden zu erarbeiten, die eine schlechte Arbeit hatten. Eines Tages fragte mich der Natschalnik, wieviel m man in acht Stunden wickeln könne. Solche Techniken waren im Normenbuch für Maler nicht vorgesehen. Ich gab als Antwort: "35 m?." Er war's zufrieden. Tatsächlich aber gab es Tage, da ich 235 m wickelte. Ich war also schon ein Stachanowarbeiter geworden mit mehr als 600% Arbeitsleistung.

Die Wände erhielten als Abschluß noch schöne farbige Striche, dann kam die Kommission und war des Lobes voll.

Wir waren mit uns zufrieden.

Es gab im Januar 1947 wesentlich schlechtere und anstrengendere Arbeit.

Von Zeit zu Zeit ließ sich auch der Bauleiter, ein Oberingenieur, sehen.

Er war sehr gut gekleidet, trug teuere Walinki mit Lederbesatz, blauen Tuchmantel mit Pelzkragen und eine sehr schöne Pelzmütze. Er war Jude und sprach mit uns sehr ruhig.

Ludwig, unser Brigadier, konnte auch ganz nett in Öl malen und bekam eines Tages den Auftrag, den Sohn des Oberingenieurs nach einem Photo zu malen. Er schloß sich also in ein fertiges Zimmer ein und malte darauflos. Die Aufgabe war nicht ganz einfach zu lösen, da die Vorlage klein und nach Art russischer Photographien nicht sehr gut war. Ich besuchte ihn von Zeit zu Zeit, besah mir sein Kunstwerk, kritisierte und suchte zwischendurch nach Läusen, was ich hier ungestört tun konnte.

Eines Tages fragte uns sein Auftraggeber, ob wir das Wickeln auch mit Ölfarben könnten. Ludwig sah mich betreten an - wir hatten das noch nie gemacht - aber ich sagte sofort, ja, das könnten wir auch, und Ludwig bestätigte eifrig. Gut, meinte der Russe, morgen würde er uns von der Baustelle in seine Wohnung bringen lassen, die sollten wir ausmalen wie man in Deutschland Wohnungen male.

Wir freuten uns natürlich, hofften wir doch auf etwas Zusatzverpflegung und konnten sicher wieder ein Stück der Stadt neu kennenlernen. Im Lager probierten wir abends das Wickeln mit Ölfarbe. Bald hatten wir heraus, daß man nur ganz wenig Farbe im Lappen haben darf, dann ging es prima. Tatsächlich holte uns am anderen Morgen ein schnauzbärtiger, älterer Russe ab und wir stiegen alle drei in eine total überfüllte Straßenbahn. Mit unseren Kübeln, Pinseln und Linealen waren wir bald restlos eingeklemmt und Herr K., unser Führer, befand sich schon vorne am Ausstieg, während wir irgendwo hinten hoffnungslos eingekeilt waren. K. rief: "Aussteigen!" und stieg aus, wir jedoch kamen nicht schnell genug hinterher und fuhren allein weiter. Am Witebsker Bahnhof gelang es Ludwig, ins Freie zu gelangen, mir aber nicht. Beim nächsten Halt konnte ich endlich hinaus und stand nun in meinem alten Soldatenmantel und mit meinen Malerutensilien mutterseelenallein mitten in Leningrad.

Ich bewegte mich in der Richtung, aus der ich gekommen war, immer an den Schienen entlang und achtete auf die Nummern der Straßenbahnen, um nicht das falsche Gleis zu erwischen. Viele Leute schauten mich erstaunt an, vor allem Offiziere, deren es zahllose gab, aber niemand sagte oder tat mir etwas. Richtig gelangte ich auch zurück zum Witebsker Bahnhof, wo Ludwig seelenruhig auf mich wartete. Auf dieselbe Art versuchten wir nun auch unseren K. zu finden.

Natürlich sahen wir uns nebenbei ein bißchen um. Es gibt ja in jedem Land eine Menge interessanter Dinge zu sehen.

Meist regelten jüngere Frauen den Verkehr, was sie mit Hilfe weißer Handstäbe recht graziös taten. Auffällig war auch hier das völlige Fehlen von Fahr- und Motorrädern, obwohl die Stadt manche guten Straßen hatte. Immerhin war es erst Februar und an diesem Tag herrschten 28 Grad Kälte. Die Lastwagen waren im Straßenbild dominierend. Doch sah man auch elegante Personenwagen, oft amerikanischer oder deutscher Herkunft. In einem Zwölfzylinder - "Horch" transportierte man Möbel! Viele Jeeps und Studebaker-Lastwagen - offenbar aus US-Kriegslieferungen stammend - fielen uns auf.

Keines dieser Pahrzeuge besaß einen Winker, bei den deutschen waren sie wohl längst außer Betrieb, und doch konnte man die Verkehrsdisziplin als erstklassig bezeichnen. Es wurde äußerst rücksichtsvoll gefahren, wir erfuhren später, daß die Strafen für Verkehrsvergehen sehr hart sind. Der Erfolg entscheidet und er ist da. Ich sah während 20 Monaten, die ich dort weilte und während der ich sehr häufig kreuz und quer die Stadt durchstreifte, nicht einen Zusammenstoß.

Ich darf hier einflechten, daß ein Jahr später bereits zahlreiche Luxuslimousinen russischer Bauart fuhren. Vorwiegend handelte es sich um drei Typen, die alle fast bis auf die letzte Schraube unseren Opeltypen nachgebaut waren: "Moskwitsch" = Opel - "Kadett", "Pobieda" = Opel - "Kapitän", "Siz 110" = Opel - "Admiral".

Auch BMW - Motorräder sah man ab 1948 in schnell steigender Zahl, sie kamen aus der Ostzone und kosteten damals 6 000 Rubel. Der "Moskwitsch" kam damals auf 12 000 Rubel, er soll jetzt, 1952, 9 000 Rubel kosten. Für die gut verdienenden Schichten ist das nicht teuer und entspräche etwa 3 - 4 Monatseinkommen.

Auffällig war weiter, daß nirgends ganze Fensterscheiben zu sehen waren.

Meist bestand eine Scheibe aus mehreren Stücken oder sie wurde durch Sperrholz ersetzt. Ich habe in ganz Leningrad bis September 1948 nur ein Haus mit lauter ganzen Scheiben gesehen; das "bolschoi dom" (großes Haus) des MWD (früher NKWD), der staatlichen Geheimpolizei. Es erhob sich am Litjemij Prospekt an der Newa. Dieses Gebäude ist ein moderner Stahlbetonklotz im amerikanischen Wolkenkratzerstil.

Später bekamen wir auch noch viele Gebäude des alten St.Petersburg zu Gesicht, auf die ich an anderer Stelle eingehen will. Nirgends sahen wir Dachziegel, alle Häuser waren mit Blech gedeckt. In den Vororten trugen die kleineren Gebäude auch Bretterdächer oder Schindeln, wie sie auf dem Lande allgemein gebräuchlich waren.

Doch zurück zu K.: wir waren schon eine Weile gegangen, da kam er völlig aufgelöst und schwitzend um eine Ecke gebraust. Beinahe hätte er uns umarmt, weil wir nur wieder da waren. Andernfalls hätte ihn auch wohl seine alte Parteizugehörigkeit nicht vor Sibirien bewahrt. Er führte uns in eine ruhige und düstere Seitenstraße, in der die Wohnung des Oberingenieurs lag. Sie enthielt einen Vorraum, zwei mittelgroße Zimmer und eine winzige Küche. Eine elegant gekleidete Frau empfing uns mit dem Oberingenieur, auch der kleine junge, den Ludwig in der Spaskaja malte, und ein Dienstmädchen waren da.

Wir hatten uns zahlreiche Wünsche über die Ausgestaltung der Wohnung anzuhören. Maßgebend war, sie sollte so werden, wie Wohnungen in Deutschland sind. Man bot uns ausgezeichnete Zigaretten der Marke "Troika" an.

Die Russen rauchen gerne. Doch finden sich unter der jüngeren Generation viele Nichtraucher. Dafür ist das Rauchen der Frauen weit mehr verbreitet als bei uns. Pfeifen sieht man selten. Die "papierossy" spielt die Hauptrolle. Die besteht nur zur Hälfte aus Tabak, die andere ist ein Pappmundstück, das bei Gebrauch abgeknickt wird, eine praktische Angelegenheit. Es gab zu unserer Zeit zahlreiche Sorten: 20 Stück kleine schon für weniger als einen Rubel, aber auch teuere, 20 Stück dickere und längere bis zu acht Rubel.

Man kennt auch volle Zigaretten, doch werden sie wenig geraucht. Eine Rolle, vor allem bei den weniger bemittelten Massen, spielt der "Machorka."

Die Wände des Vorplatzes trugen schon einen grünen Ölfarbenanstrich, wir verschönerten sie indem wir bizarre gelbe und, in diese hinein, rote Muster ebenfalls mit Ölfarbe wickelten. Ludwig drückte sich bald und malte den Jungen, der ihm im Schlafzimmer Modell saß. Darin gab es je ein großes Metall- und Kinderbett, ferner Schrank, Spiegel, einige Stühle und Kleinigkeiten. Für unsere Begriffe war es nicht sehr feudal. Dennoch konnte die Familie für wohlhabend gelten; denn im Wohnzimmer thronte ein Klavier, ferner ein richtiges Radio, mit dem man auch selbst Sender wählen konnte. Wir stellten Leipzig ein und hörten zum ersten Male seit eineinhalb Jahren wieder Worte aus Deutschland.

Die meisten Russen können nur Drahtfunk hören, der zentral eingestellt wird.

Gelegentlich schaute die Schwiegermutter nach, ob der Junge und das Dienstmädchen noch am Leben waren. Mit meiner Wickelarbeit war sie sehr zufrieden und fand sie herrlich. Mittags aßen wir erstmalig seit Kriegsende wieder an einem Tisch, das Essen war gut und reichlich.

Es war schon dunkel, als uns K. abholte und zur Baustelle zurückbrachte; mußten wir doch mit unserem Kommando einrücken, da unser Privatauftrag Schwarzarbeit war. Unser Arbeitsgerät ließen wir an Ort und Stelle. Am nächsten Tag wurde der Vorplatz fertig. Nach bewährter Manier zauberten wir als Abschluß einen Blumenfries an die Wände. Alle waren mit unserer Arbeit zufrieden, nur der Oberingenieur, der offensichtlich intelligent war, fragte, ob man das in Deutschland auch wirklich so habe. Wir beruhigten ihn. Tags darauf warteten wir vergebens auf K. Er kam nicht mehr, um uns zu holen. Irgend etwas mußte geschehen sein. Bald erfuhren wir es. Auf unserer Baustelle fehlten 35 kg Öl zum Anmachen von Farbe und der Oberingenieur wurde zur Rechenschaft gezogen. Ob dabei unsere Schwarzarbeit aufkam oder ihn belastete, konnten wir nicht ermitteln. Wir sahen den Mann nicht wieder, ebensowenig unser mühsam angefertigtes Handwerkszeug, das sich nur schwer ersetzen ließ. K. versprach zwar mehrfach auf unsere Bitten hin, es zu holen, aber offenbar getraute er sich doch nicht. Wir arbeiteten also wieder in der Spaskaja. Ludwig hatte bald von verschiedenen russischen Frauen Photos und Aufträge, Porträts herzustellen. Es hatte sich herumgesprochen, er sei Kunstmaler. Nicht immer wurden die Bilder sehr ähnlich, aber das war nicht schlimm. Mit der Zeit bekam er Übung und malte später ganz tolle Sachen.

Eines Tages erschien der Chef der Baugesellschaft mit einer Kommission. Ich stand gerade auf der Leiter und wickelte. Die Herren sahen zu mir, spuckten zwischendurch mal auf den Fußboden oder warfen ihre Papierossy hin. Ich hörte den Direktor sagen: "bolschoi spezialist", womit er mich meinte. Ich mußte innerlich lächeln. Immerhin führten solche Erlebnisse dazu, daß wir bald vor keinem noch so komplizierten Auftrag mehr zurückschreckten. lm Laufe der Zeit lernten wir wirklich eine ganze Menge und hielten jeden Vergleich mit den russischen Arbeitern aus.

Fertige Farben gab es so gut wie nie. Alles mußte erst angemacht werden. Oft galt es, sich mit primitiven Ersatzstoffen zu behelfen. Es kam dann eben auf Findigkeit an.

Zwischendurch mußte ich einmal einen Tag lang die Einzimmerwohnung eines unserer russischen Arbeiter ausmalen. Zu diesem Behufe verkleidete man mich als Russen. Ein Mädchen von etwa 20 Jahren begleitete mich und die Straßenbahn trug uns davon. Unterwegs begegnete uns ein langer Zug deutscher Kriegsgefangener, sie sahen für den Betrachter erbärmlich schlecht und zerlumpt aus.

Das bewußte Haus glich unserem in der Spaskaja, nur war es viel älter. Die Wohnung enthielt nur die nötigsten Möbel. Die Wände wiesen zahllose Sprünge auf und es kostete mich Mühe, meinen Auftrag bis zum Abend zu erfüllen. Zu essen bekam ich nichts, da die Leute sehr arm waren. Die Lebensmittel gab es damals noch auf Zuteilung.

Ich unterhielt mich mit der Frau, während sie mir Handlangerdienste leistete. Die Miete für ein solches Zimmer war verhältnismäßig billig. Dazu kam das Licht. An der Wand hing ein Blechtrichter, der Drahtfunk. Deutsche Musik spielte in den Programmen der Sender eine beachtliche Rolle.

Als ich mich verabschiedete, dankte mir die Frau und bedauerte, mir nichts schenken zu können.

Ein russischer Arbeiter verdiente zu dieser Zeit etwa 600 Rubel in einem Monat.

Eines Tages erhielt Ludwig einen neuen Auftrag für zwei Maler und nahm mich mit: die Räume der Werksfeuerwehr waren zu erneuern.

Diese Feuerwehr, uniformiert wie die Rote Armee, war in einer Baracke im Fabrikgelände untergebracht. Es gab dort einen hallenartigen Raum, der das etwas altmodische Auto barg, einen größeren Tagesraum mit Liegestätten für die Belegschaft, die etwa zur Hälfte aus Frauen bestand, ein Zimmer mit Ehrentafeln und den Bildnissen führender Männer aus Partei und Regierung, ein Telefonzimmer, sowie zwei weitere Zimmer für den Natschalnik, einen Oberleutnant, und seine beiden Leutnants.

Der Oberleutnant war sehr nett zu uns, seine Frau war, wie er gelegentlich erwähnte, im Arbeitseinsatz in Deutschland gewesen. Auch alle übrigen Mitglieder hatten bald ein freundschaftliches Verhältnis zu uns, nannten uns bei unseren Vornamen und unterhielten sich sehr häufig mit uns.

Der Natschalnik sorgte dafür, daß wir trotz der schwierigen Verhältnisse meist ein wenig Essen bekamen. Seine Leute kochten sich fast alle auf einem Herd ihr bescheidenes Mahl. Ein besonderes Verhältnis verband uns mit der Telefonistin, Sie sprach perfekt deutsch, hatte ein feines Gesicht und trotz ihrer vermutlich bald 50 Jahre eine graziöse Figur, die durch die Uni- form kaum litt. Die Frauen trugen dunkelblaue Röcke, braungraue Uniformblusen mit aufgesetzten Taschen und Schulterklappen und blaue Baskenmützen mit dem Sowjetstern.

Der Vater unserer Telefonistin war Architekt am Zarenhof und ein berühmter Kunstmaler gewesen. Sie erzählte uns aus ihrer Jugend und das alte Petersburg wurde lebendig. Kutschen, Schlitten, Diener und ein großes Haus hatten ihre Eltern besessen. Mehrfach zeigte sie uns wunderschöne, kleine Aquarelle, die ihr Vater gemalt hatte. Sie zeigten eine Harmonie der Farben, wie ich sie noch nie sah. Zufällig geriet uns auch eine große Zeichnung ihres Vaters in die Hände, die eine Seeschlacht aus dem Russisch-Japanischen Krieg darstellte. Der Mann war offensichtlich ein großer Künstler, ich las später seinen Namen auch in einem alten Buch über Malerei.

Doch zu unserer Arbeit: Ludwig hatte gleich anfangs den Oberleutnant gewonnen, daß er für ihn große Ölbilder malen durfte. Farben, Rahmen und Leinwand wurden gestellt. Als erstes sollte ein lebensgroßer Stalin entstehen und bis zum 1. Mai fertig sein.

Ich besorgte unterdes die Malerarbeiten. Wir gaben uns natürlich Mühe, dieses Kommando so lange wie möglich, zu halten.

Zahllose Risse bedurften der Ausbesserung und es dauerte bei den größeren Räumen oft tagelang, bis allein diese Arbeiten fertig waren. Dann ging es an den Anstrich. Wieder machte die Wickeltechnik großen Eindruck auf die Leute. Manche wollten es selbst versuchen und ließen sich anleiten, um daheim ihr Zimmer auszugestalten. Auf hellem Grunde machten sich dunklere Muster in passenden, doch kräftigen Farben sogar für unseren Geschmack recht gut. Nicht nur unsere Technik, sondern auch unsere Fähigkeiten hinsichtlich zahlreicher Muster und Tönungen nahmen ständig zu. In der Feuerwehr wagte ich mich sogar an ein Deckenmuster. Schwierig war dabei, daß die Decke schräg von einer niedrigen zu einer höheren Wand verlief. Ich zeichnete alles genau symmetrisch auf, besah mir die Sache von unten und fand, daß sie von da aus unsymmetrisch wirkte. Ich probierte so lange, bis die Deckenraute um die Lampe richtig erschien. Sie machte sich gar nicht schlecht und die Russen waren begeistert. Ihnen mußte es ja in erster Linie gefallen.

Ludwig geriet mit Josef Stalin in arge Bedrängnis, der Termin rückte näher und der Generalissimus war nicht fertig. In seiner Verzweiflung stellte er mich auch noch an und ich malte dem hohen Herrn Hosen und Uniformrock. So schafften wir es.

Der Natschalnik ging einige Wochen auf Urlaub und als er wieder kam, war sein Stalin nicht mehr da. Die Staatssicherheitspolizei (MWD) hatte ihn abgeholt. Sonst geschah nichts. Schade, er war ganz nett geworden.

Ludwig malte nun nach Vorlagen oder der Phantasie. Die Bilder gerieten immer besser, manche sogar sehr gut.

Ich vergnügte mich unterdessen mit der Anstreicherei.

Zwischendurch unterhielten wir uns mit unseren Russen. Was die nicht alles wissen wollten!

Als sie hörten, ich sei Flieger gewesen, gab es nichts Eiligeres, als kategorisch zu sagen: "Du hast Leningrad bombardiert!" Als ich dies wahrheitsgemäß verneinte, glaubten sie mir nicht. Doch hatten sie nichts dagegen, als ich ihnen von Bombenangriffen auf England berichtete. Sie waren alle überzeugt, daß Hitler noch lebe und mit einem U-Boot oder Flugzeug entkommen sei.

Es erschien ihnen auch unglaublich, daß wir zu Hause eine Menge Dinge hatten, die sie nicht besaßen. Immer wieder aber kam zum Ausdruck, daß sie vor der deutschen Technik große Achtung hegten und durchaus für eine enge politische Zusammenarbeit mit Deutschland eintraten.

Diese Auffassung habe ich noch sehr oft und an den verschiedensten Orten gefunden.

Doch auch dieses gute Kommando ging zu Ende.

Wir wurden in das Laboratorium der Fabrik gesteckt, das ebenfalls renoviert werden sollte. Im Jahre 1941 hatten die Russen den weiteren Aufbau des Werkes eingestellt und so bestand sie aus einer Mischung von älteren, ziemlich verwahrlosten und halbfertigen Gebäuden.

Eine Reihe größerer Räume sollte einschließlich der Decken mit einem dauerhaften Anstrich versehen werden. Wände und Decken wiesen zahlreiche Risse auf und wir hatten viele Tage nur mit dem Verspachteln zu tun. Zum Anstrich verwendeten wir dann eine Art Nitrofarbe, "Azeton" genannt, die sehr scharfriechende Dämpfe ausströmte und Atembeschwerden verursachte. Sie wurde in Ka- nistern fertig geliefert und trocknete sehr rasch.

Der russische Natschalnik Nikolai war ein äußerst sympathischer und höflicher Mann und trat jederzeit für uns ein. Hier tauchte auch K. als Meister wieder auf und machte uns das Leben sehr sauer.

Er rechnete jeden Abend mit mir ab, überprüfte meine Arbeitsangaben und wir unterschrieben dann beide die "Sprawka", eine Art Leistungsabrechnung. Unser Kommando arbeitete gut und fleißig und doch änderte er hinterher immer eigenmächtig den Schein zu unseren Ungunsten ab, wodurch wir häufig schlechte Prozente bekamen und damit kein Zusatzbrot. Eines Tages wurde mir die Geschichte zu bunt und ich beschwerte mich beim Arbeitseinsatzoffizier des Lagers. Es fand ein Lokaltermin statt. K. wurde sehr ausfallend und ich wehrte mich, so gut ich konnte. Mit dem Erfolg, daß ich 14 Tage Arrest in einem fensterlosen, betonierten Raum erhielt, der von Flöhen wimmelte. K. sollte wegen Urkundenfälschung belangt werden, doch lief er weiter frei umher.

Nach diesem Vorfall faßte er mich sehr behutsam an. Ich redete kein Wort mehr mit ihm und ließ einen anderen Kameraden abrechnen.

Eines Tages erhielt ich wieder einen Privatauftrag: der russische Lagerkommandant, ein Gardeoberst, wollte seine Wohnung gemacht haben. Das Material hierfür hatten wir zu beschaffen, d.h. in der Fabrik zu stehlen.

Im Lager hatten wir uns für solche Fälle schon einen Vorrat an allen möglichen Dingen angelegt. Der Herr Oberst brachte lediglich die Tapeten selbst.

Mit einem Kommando, das in der Stadt arbeitete, wurden wir durch das Fabriktor geschleust. Dort beobachteten wir immer wieder, wie streng die Kontrolle sowohl der Einzelpersonen, als auch aller Fahrzeuge gehandhabt wurde. Auch wir wurden scharf unter die Lupe genommen. Bei Fahrzeugen untersuchte man auch die Ladungen genau. Hatte ein Wagen z. B. Sand geladen, sostieg ein Mädchen der Wache mit einem florettartigen Eisenstab hinauf und stach in den Sand mehrfach hinein, um ihn zu prüfen.

Wir fuhren auf einem Lastwagen weit nach Leningrad hinein. Es gab viel zu sehen.

Am Ufer der Newa, dem "bolschoi dom" schräg gegenüber liegt die Peter-Pauls-Festung, die hauptsächlich als Gefängnis diente. Ihre dunkelroten Ziegelmauern und grasüberwachsenen Wälle machten keinen sehr imposanten Eindruck. Newaabwärts sah man Universität, Eremitage, Börse und Admiralität. Letztere ist eine der wenigen, von Russen errichteten, alten Bauten aus der Zarenzeit. Meist haben hier Italiener, Franzosen und Deutsche gebaut. Die Stadt wird von zahlreichen Armen der Newa, FIüßchen, Bächen und Kanälen durchzogen. Sie machte in den Nebenstraßen einen recht schäbigen Eindruck, weil offenbar viele Jahre lang nichts zur Erhaltung und Verschönerung der Gebäude getan worden ist. In der Hauptsache fallen drei Stilepochen des Bauens auf: italienisches Hochbarock, in dem die meisten Großbauten der Zarenzeit errichtet sind; ihm folgt der Klassizismus, der an öffentlichen und Wohnhausbauten in Erscheinung tritt; nach der Revolution 1917 baute man im "neuen Stil", der schmale und hohe Stahlbetonbauten mit wuchtigen Säulenfronten aufweist. Häufig findet man auch alle drei Stilarten in einem einzigen Gebäude vereinigt. Neben diesen drei Hauptepochen fallen noch vereinzelte Bauten im byzantinischen Stil auf. Auf unserem Weg kamen wir an einem Musterbeispiel desselben vorbei: ich meine die Troitzkij-Kathetrale. Sie wirkte von weitem wie ein Stück aus einem orientalischen Märchen. Eine Unmenge großer und kleiner, ganz unregelmäßig aufgesetzter Zwiebeltürme, die mit grellbunten Kacheln gedeckt waren, gab ihr ein sehr fremdartiges Aussehen.

Jede Kachelreihe war andersfarbig und wand sich spiralig um die Zwiebel herum nach der Spitze zu. Grundriß, Fenster- und Türformen waren orientalisch. Beim Näherkommen sahen wir allerdings, daß die Fenster ohne Scheiben und das Innere leer und öde waren. Leningrad hat viele Kirchen, eine der bekanntesten ist noch die Isaaks-Kathedrale, ein mächtiger Kuppelbau im Stil des Klassizismus. An einer anderen Kirche hielten wir und stiegen aus. Sie war baulich nicht bedeutend, fiel aber durch drei Umstände auf: der freie Platz um sie war eingezäunt von aufrechtstehenden Kanonen aus den russisch-türkischen Kriegen. Immer drei, eine große und zwei kleinere, bildeten eine senkrecht stehende Gruppe, diese war mit der nächsten durch schwere Eisenketten verbunden. Weiter war die Kirche in Betrieb und dauernd gingen meist ältere Leute aus und ein.Als letztes überraschten uns Dutzende von Bettlern, die auf dem Boden vor der Kirche lagen oder saßen.

Leningrad hatte 1948 schon wieder über 4 Millionen Einwohner. Der Krieg hat fast nichts zerstört. Nur am Westrand der Stadt sah ich vereinzelt Zerstörungen.

Die Wohnung des Obersten lag in einer ruhigen Seitenstraße und bestand aus einem ehemals großen Zimmer, das man unterteilt hatte. Zwei Drittel desselben dienten als Wohnzimmer, darin unter bunt zusammengewürfelten Möbeln auch ein deutscher Flügel, auf dem montags stets einige leere Wodkaflaschen standen. Zwei Drittel des letzten Drittels waren Schlafraum und der Rest hieß Küche. All das mit Türen und Fenstern sollte renoviert werden.

Wir ließen uns Zeit. Als wir die alten Tapeten abrissen, erschienen als Makulatur deutsche Zeitungen aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Die Wohnung, die etwa 12 - 15 Räume enthielt, hatte einem deutschen Diplomaten gehört; jetzt bewohnten sie zahlreiche Parteien, die Küche war allen gemeinsam.

Am nächsten Tag brachten wir Leim aus der Fabrik mit, der Oberst konnte sich keinen kaufen, obwohl er 3000 Rubel im Monat verdiente. Ein Eimer Leim kostete damals etwa l00 Rubel. Der Oberst war freundlich zu uns, von mir erbat er sich des öfteren Tabak. Hatte er selbst Rauchbares, so bot er an. Öfter sahen wir ihn frühstücken. Er trank Tee, aß etwas Fisch, dazu rohe kleine Gurken und Brot.

Er war, wie auch seine charmante Frau, groß, schlank, blond und hatte blaue Augen. In Leningrad trafen wir häufig Menschen dieses Typus, der offensichtlich auf die jahrhundertelange schwedische Herrschaft in diesen Gebieten zurückgeht. Wir ersahen aus Fotographien, daß der Oberst und seine Frau gemeinsam an der Front gegen die Deutschen gekämpft hatten. Die Frau Oberst fuhr nach einigen Tagen auf einige Wochen nach Kislowodsk im Kaukasus.

Mit dem Tapezieren kamen wir ganz gut zurecht, obwohl wir diese Arbeit noch nie gemacht hatten. Es dauerte nur ziemlich lange. Die Schwiegermutter des Herrn Oberst und sein Söhnchen von etwa vier Jahren waren immer da. Der Junge war außerordentlich böse und eigensinnig und störte uns oft bei der Arbeit, derart, daß er eines Tages von mir eine auf sein kleines Hinterteil bekam. Mir passierte nichts.

Wir klebten also unsere Tapeten und alles ging gut, nur eines Morgens hing eine Ecke herunter ins Zimmer. Wir brachten den Schaden in Ordnung. Bald brauchten wir Ölfarbe und Fensterglas. Wir beschafften die Dinge im Lager. Anderntags fielen sie der Kontrolle durch den Natschalnik der Fabrikwache zum Opfer, er stellte sie an der Wand des Wachgebäudes ab. Wir kamen ohne Material zur Schwiegermutter und sie beschimpfte uns deshalb mörderisch. Sie rief sofort den Oberst im Lager an, der aber wohlweislich nichts unternahm. Als wir abends einrückten, standen die Sachen noch immer an der Wache. Wir nahmen sie wieder mit und gelangten am nächsten Tag unangefochten hinaus.

Alle Fenster wurden neu eingeglast den Kitt stellten wir selbst her. Türen und Fenster erhielten einen neuen Anstrich.

Gegen Abend holte uns immer ein russischer Zivilist und brachte uns einige Straßen weiter zu dem Kommando, mit dem wir dann ins Lager fuhren. Gelegentlich mußten wir auf unsere Kameraden auf der Straße warten und konnten das Leben und Treiben beobachten. Ein altes Mütterchen drückte uns so schnell ein Stück Brot in die Hand, daß wir uns kaum bedanken konnten. Eine junge, gut angezogene Frau kam über die Straße gelaufen und gab uns einige Schachteln Streichhölzer. Ein angeheiterter Kriegsinvalide mit Ordensschnalle lud uns zu einem Schnaps in einen Stehausschank und schenkte uns eine Schachtel Zigaretten.

Wenn man bedenkt, daß Leningrad im Kriege schwer gelitten hatte, was Menschenverluste durch Hunger betrifft, und berücksichtigt, daß zu dieser Zeit ein Großteil der Bevölkerung nur das Allernötigste zum Leben besaß, so war diese Haltung uns gegenüber eines Lobes würdig.

Gute Menschen leben auch in Rußland.

Nachdem unsere Arbeit zur großen Zufriedenheit des Obersten ausgefallen war, empfahl er uns einem anderen Oberst, der demobilisiert und als Verwalter eines Stadtviertels tätig war.

Auch dieser Herr bewohnte mit seiner Familie nur einen Raum, der dürftig eingerichtet war. Diesmal hatten wir einen heftigen Kampf mit Wanzenregimentern auszufechten, die hinter den alten Tapeten hausten. Wir bekamen gut zu essen und dieser Umstand feuerte unsere Arbeitslust erheblich an.

Doch die guten Tage gingen schnell vorüber.

Die Spaskaja nahm uns wieder auf und wir bauten das riesige stählerne Baugerüst bei gleichzeitigem Tünchen der Fassade ab. Die großen Flächen wurden in Ocker angelegt, die etwas erhaben gehaltenen, pfeilerartigen Unterbrechungen (Lisenen) weiß. Das Ganze sah recht freundlich aus.

Daneben liefen kleine Aufträge, die mit der Malerei nichts zu tun hatten. Doch mußten wir sie ausführen, um den Meister nicht zu verärgern und gute Prozente zu erhalten.

So hatte ich eines Tages vom Gerüst ( ohne Geländer ) des zweiten Stockwerks aus auf freistehender Leiter etwa 7 m hochzuklettern und zwei Dachrinnenstücke, die auseinandergegangen waren, wieder ineinanderzufügen. Keine leichte Arbeit, da nur eine Hand für die Arbeit zur Verfügung stand.

Dann wurden wir wieder Fabrikmaler.

Riesige Hallen waren fertiggestellt oder neuerbaut worden, einen Großteil der Arbeiten hatten Kriegsgefangene geleistet. Zahllose Decken, Wände und Säulen, alle aus Beton, erhielten Kalkanstrich. Bei solcher Arbeit konnte man keine guten Prozente erreichen. Die Norm schrieb etwa 210 m2 für 8 Stunden vor. Da die Hallen sehr hoch waren, verloren wir viel Zeit mit Gerüstbau, der uns nicht angerechnet wurde. Das Werkzeug war schlecht und arbeitete sich an den rauhen Wänden schnell auf.

Die Träger der Dachkonstruktionen mußten einen schwarzen Schutzanstrich erhalten. Trotz der großen Höhen gab es kaum Sicherungsmaßnahmen. Das Arbeitstempo war sehr rasch.

Eine Zeitlang arbeitete ich als Handlanger bei einem deutschen Maurer, später selbst als Maurer. Anschließend setzten wir die riesigen Fensterstöcke der Halle und putzten sie ein. Auch als Glaser sammelten wir Erfahrungen beim Verglasen der oben erwähnten Fenster. Alle diese Dinge wollten erst gelernt sein.

Wer ein wenig handwerkliches Geschick mitbrachte, konnte sehr bald die verschiedenen Arbeiten in der geforderten Güte ausführen. Die jüngeren russischen Arbeiter hatten keine sehr gründliche Ausbildung und schon bald waren viele von uns ihnen leistungsmäßig ebenbürtig. Da vom Arbeitsplatz sehr viel für uns abhing, setzten wir alles daran, schnelle und ordentliche Arbeit zu leisten. Das Normensystem erzieht zwar zu oberflächlicher Massenarbeit, aber bei uns Deutschen brach immer wieder die Gründlichkeit durch, auch da, wo sie uns mehr Schaden als Nutzen brachte. Eines Tages holte man mich wieder mit einigen Kameraden zu einer Privatarbeit. Der Kapitän, dem im Lager der MWD unterstand - also der mächtigste Russe des Lagers - wünschte die Erneuerung seiner Wohnung. Sie bestand aus zwei kleineren Zimmern und der üblichen Gemeinschaftsküche. Ein Konvoi brachte uns mit einem Lastwagen hin. Die Räume waren sehr dunkel und zahlreiche, außen verlegte Leitungen erschwerten die Arbeit ungemein. Die Frau des Kapitäns und seine beiden kleinen Kinder waren immer da, zuweilen ließ man uns auch mit den Kindern allein.

An der Wand hing auch hier der obligate Blechtrichter. Die Zimmer wurden tapeziert. Dann sollte es an die sehr schmutzige Gemeinschaftsküche gehen.

Als wir an dem betreffenden Morgen ankamen, öffnete die Frau und wies uns in die Küche. Ich ging aber gleich auf die Zimmer los, um unser Gerät zu holen, in der Meinung, der Kapitän sei schon im Dienst. Es war schon nach 9.00 Uhr. Ohne zu klopfen trat ich ein, prallte aber erschrocken zurück: mitten im Zimmer saß der Herr Kapitän im Adamskostüm auf dem Töpfchen.

6 m weiter war ein ordentliches W.C. Seitdem begegnete er mir nicht mehr gerne.

Einige Monate später holte er mich aber doch nochmals in seine Wohnung und hieß mich die Fenster und Türen streichen. Es war ein Sonntag. Ich erhielt auch ein sehr anständiges Abendessen, das ich mit der ganzen Familie am Tisch einnehmen durfte.

Man achtete sehr genau auf meine Tischsitten. In der Unterhaltung war ich sehr vorsichtig.

Darnach kam ich wieder in die Spaskaja. Ein unterirdisches Wasserreservoir galt es aus Beton zu errichten. Große Erdbewegungen gingen voraus. Der verwendete Zement stammte zum Teil aus Deutschland. Wir luden ihn mit dem gesamten Lager in überschlagendem Arbeitseinsatz aus den riesigen Eisenbahnwagen aus. Es handelte sich um 30 000 Tonnen. Diese Arbeit war sehr anstrengend, da die meisten Säcke beschädigt waren. Sie trugen in russischer Schrift die Herstellungsorte der Ostzone.

In der Spaskaja karrten wir unglaubliche Mengen Beton. Auch das Mischen, das teilweise von Hand und teilweise maschinell geschah, war keine leichte Arbeit, vor allem des Tempos wegen.

In dieser Zeit ereigneten sich auch zwei tragische Unglücksfälle:in der Fabrik geriet ein Kamerad beim Reinigen einer großen, elektrischen Betonmischmaschine, das er allein vornahm, mit den Fetzen seiner Bekleidung in das Zahnradgetriebe, konnte nicht mehr ausschalten und wurde zermalmt.

Abends im Lager Antreten und scharfe Belehrung.

Anderntags geschah in der Spaskaja dasselbe.

Uns alle bedrückten diese Ereignisse sehr.

Wieder ging es in die Fabrik zurück. Langsam kam der Winter 1947/48 heran. Wir malten die Direktionsgebäude aus. Nachdem zahlreiche Räume in unserer bewährten Manier ausgestaltet waren, fiel es den Russen ein, die bisher außerhalb der Decken verlegten Leitungen in diesen unterzubringen und so mußte alles wieder aufgerissen und neu gemalt werden; dann kam eine Kommission und befahl Tapeten. Also tapezierten wir in einem dritten Arbeitsgang. Ein großer Nachteil war, daß mein Freund K. unser Meister war. Doch sah er sich sehr vor und bemühte sich, gerecht zu sein. Nicht immer glückte es ihm.

Weihnachten ging vorüber und strenger Frost setzte ein. Malerarbeiten gab es gerade nicht und so fand ich in der Fabrik durch Vermittlung eines mir wohlgesonnenen Natschalniks eine zwar nicht schöne, aber warme Arbeit: er verschaffte mir die Abortreinigung einer Abteilung. Ich holte mir noch einen Kameraden und so schrubbten wir täglich zweimal die Aborte; es war sehr unappetitlich. Doch draußen schachteten viele Kameraden bei 20 und mehr Grad Frost Kabelgräben aus.

Wir waren in der Abteilung sehr wohl gelitten.

An zahlreichen Maschinen drehten Frauen Rohre. Wir schafften die Abfälle fort und schichteten sie auf dem Hof zu großen Haufen.

Unsere besonderen Freunde waren Alexander, der Tischler, ein junger, sehr netter und korrekter Mann, sowie Wassilji, ein verkommener, schmutziger, doch gutmütiger Kerl von etwa 55 Jahren. Bei ihm konnte man alles verkaufen, was nur denkbar war, und bald blühte ein schwunghafter Handel. Seife, alte und neue Kleider, Schuhe, Messer, Scheren, Bilder, kurz - alles konnte man bei Wassilji anbringen. Er pflegte in irgend einem Winkel der Fabrik zu schlafen und anderntags genau so schmutzig wie sonst zu erscheinen.

Sascha (Alexander) warnte mich mehrfach und meinte, Wassilji habe bestimmt Läuse.

Mit dem Zahlen war er nicht sehr flink, doch erhielt ich immer wieder mein Geld. Wir verkauften ja alles, was nicht niet- und nagelfest war. Wir hatten auch darin von unseren Gastgebern gelernt.

Vom Lager aus wurden wir regelmäßig in ein öffentliches Bad, "banja" genannt, geführt. Dort war alles recht praktisch und für uns sehr wohltuend. Auch zur Entlausung kamen wir. Dabei mußte man sich daran gewöhnen, daß man von Frauen, die manchmal jung und sogar hübsch waren, genau mit einer Lampe vor und nach dem Bad vor allem an den diskreten Körperstellen untersucht wurde, versteht sich, im Adamskostüm.

Die Kleider hingen unterdessen in den Entlausungskammern.

Bei dieser Gelegenheit bekam ich auch das berühmte Alexander-Newski-Kloster zu sehen, einen italienischen Barockbau ganz ausgezeichneter Art. Leider war er stark verfallen. Die Anlage war sehr weitläufig, mitten auf dem Hof befand sich ein Friedhof aus dem letzten Kriege, mit mannigfaltigen Denkmälern geschmückt. So standen auf mehreren Gräbern Luftschrauben von Flugzeugen.

Wieder begann ein neues Kommando.

Am Westrand der Stadt wurden riesige Wohnblöcke mit recht feudalen Wohnungen gebaut. Sie waren aber nicht für Arbeiter bestimmt. Die Bauweise fiel auf, die Objekte waren lang, schmal und 6 - 8 Stockwerke hoch. Als Schmuck der Fassade dienten Betonsäulen und Balkone. Die Wohnungen enthielten jeweils 3 räumlich gut aufgeteilte Zimmer und Nebenräume mit eingebautem Telefon. Zur Verwendung gelangte nur gutes Material, von dem allerdings ein Teil verschoben wurde, jedoch nicht von uns. Sämtliche Räume erhielten Tapeten, mit Ausnahme der Küchen und Bäder.

Täglich fuhren wir in größerer Zahl in einem Sonderzug der Strassenbahn auf offenen Wagen 1 1/2 Stunden quer durch Leningrad zur Arbeitsstelle. Es gab viel zu sehen.

Gerade am Westrand waren damals noch alle Häuser, auch Kirchen, mit Schießscharten versehen, die Fenster vielfach zugemauert und alles noch wie zur Zeit der Belagerung. Zerstörungen sahen wir nur wenige, obwohl die einstigen deutschen Stellungen von den oberen Stockwerken aus deutlich zu erkennen waren. Manche Kameraden hatten im Kriege nur wenige Kilometer entfernt gelegen. Vom Dach des Hauses aus hatte man einen sehr schönen Blick über die Stadt und die Bucht.

Da auch andere Lager mit Kommandos an dieser Großbaustelle arbeiteten, erfuhren wir mancherlei Neues. Es arbeiteten auch Gefangene im Hafen und wir hörten, daß ganze Schiffsladungen mit Damenschuhen aus der Ostzone ankamen; ebenso riesige Reparationslieferungen mit genormtem Bauholz aus Finnland.

Eines Abends bekamen wir es zu sehen.

In unserer Fabrik wurden Berge davon ausgeladen, Posten mit Vogelflinten bewachten sie. Das Lager mußte ausrücken und Bretter für den weiteren Ausbau stehlen. Ich war unter den letzten, die gingen. Der Posten, der wohl irgendwo geschlafen hatte, bemerkte zum Schluß doch noch, daß wir an seinen Brettern waren, und raste hinter uns her. Am Lagertor stand lachend der Oberst und fragte mich, ob wir die Bretter gestohlen hätten (er kannte mich ja von der Arbeit in seiner Wohnung her). Ich bejahte und er ließ lachend das Tor schließen. Der Posten stand mit drohend erhobenem Gewehr ohnmächtig davor. So sind dort die Bräuche.

Von Zeit zu Zeit führte man uns auch in ein Kino. Es gab russische Farbfilme recht guter Qualität zu sehen. Die Themen waren meist der Geschichte oder Natur entnommen. Einmal sahen wir einen Farbfim von der Parade am 1. Mai 1947 in Moskau. Die Kriegsschulen marschierten an Stalin vorbei unter deutschen Militärmärschen. Wir trauten unseren Ohren nicht. Eines Tages zeigte man uns im Lager den Film "Gericht der Völker." Er behandelte die Nürnberger Prozesse. Auf uns wirkte er nicht, da er psychologisch sehr ungeschickt war und uns zu recht ungünstigen Vergleichen anregte. Der erste Teil bestand nur aus Paraden des Dritten Reiches. Und dann kamen die Gehenkten.

Aber auch das ging vorüber.

Die aus der Ostzone regelmäßig ankommenden Zeitungen lasen wir begierig. An sonstiger Lektüre standen uns zur Verfügung: die bolschewistischen Standardwerke von Lenin, Stalin, Marx und Engels; auch die "Geschichte der KPdSU" war zahlreich vertreten. Zahlreiche Broschüren politischen Inhalts ergänzten diese Seite unserer Lesestoffe. Daneben gab es Werke von Gorkij, Puschkin, Lermontow, Gogol, Alexej Tolstoi, Ehrenburg und vielen anderen. Auch einzelne deutsche Autoren fanden sich, vor allem Heine. Mir fiel damals eine russische Literaturgeschichte von 1912, verfaßt von einem deutschen Professor, in die Hand. Sie gab mir einen guten und objektiven Einblick in die Dinge.

An Hand dieses und anderer Bücher und von Zeitungsausschnitten verfasste ich mir in den 20 Monaten meines Leningrader Aufenthalts eine sehr umfangreiche russische Geschichte und eine Literaturgeschichte, die ich in Hunderten von Nächten und freien Stunden trotz großer Ermüdung auf die Rückseite von Tapeten schrieb. Leider nahm man sie mir bei der nächsten Versetzung ab. Zwischendurch arbeiteten wir auch in einer Schule. Da gab es interessante Einblicke. Der Lehrerstand ist in Rußland sehr geachtet und auch wirtschaftlich gut gestellt. Schulbücher sind außerordentlich billig, ebenso Hefte, trotz der chronischen Papierknappheit. Ich habe viele dieser Schulbücher selbst in der Hand gehabt, sie sind psychologisch geschickt aufgebaut und enthalten alle eine starke nationale Tendenz. Schon in der Grundschule wird eine Fremdsprache gelehrt, meist Deutsch, daneben aber auch Englisch und Französisch.

Täglich fuhren wir auch an den Kirow-Werken ( den ehemaligen Putilow-Werken ) vorbei. Sie umfassen weiträumige Anlagen, die in langer Front an die Hauptstraße grenzen. Wie jede Fabrik ist auch diese scharf bewacht. Von außen machte sie keinen sehr gepflegten Eindruck.

Ganz in der Nähe erhob sich ein großes Tor, ähnlich dem Siegestor zu München, es ist laut Inschrift dem Zaren Alexander I. gewidmet und stammt aus dem 19. Jahrhundert.

Eines Tages begann ein neues Kommando. Im Norden der Stadt sollte eine große Wohnsiedlung, "Neues Dorf" genannt, gebaut werden. Sie sollte aus 96 ein- oder zweistöckigen Häusern bestehen. Mit Lastwagen rollten wir jeden Morgen dorthin. Auch andere Lager beteiligten sich an dem Projekt. In der Nähe unseres Arbeitsplatzes gab es einen Flugplatz und einen Friedhof.

Zunächst hoben wir den Grund aus. Mit uns werkten nur einige wenige Russen. Der Boden war außerordentlich schwer, in der Hauptsache bestand er aus grauem Ton, den man von der Schaufel nur durch kräftiges Aufschlagen auf den Boden losbekam. Er saugte sich förmlich am Schaufelblatt fest.

Da Leningrad am Boden einer weiten, schüsselförmigen und recht feuchten Mulde liegt, kam sehr bald Grundwasser. Dauernd mußte gepumpt werden, doch erwiesen sich bald Gummistiefel als nötig. Die Norm für 8 Stunden betrug 3 m3, jedoch verdoppelte sie sich beim Ausheben insofern, als der ausgeworfene Grund durch einen zweiten Mann vom Grabenrand weggeschaufelt werden mußte. Für ihn waren ebenfalls 3 m3 mit auszuheben. Das war ein enormes Pensum und nicht immer konnten wir es schaffen.

Dann ging es an das Errichten der Fundamente, die aus Natursteinen gemauert wurden. Mit der vorgeschriebenen Breite nahmen es unsere beiden russischen Vorarbeiter nicht allzu genau. Mehrfach gingen uns die Steine aus und wir zogen zu vieren aus, neues Material zu organisieren. Das geschah so: der russische Fahrer des Lastwagens kannte irgendwo Fußwege, die mit Natursteinen gepflastert waren. Mit unseren Brechstangen hoben wir sie heraus und verluden sie im Eiltempo auf unsere Wagen. War er voll, so ging es ab, wie die Feuerwehr. Auf diesen Fahrten gelangten wir auch zu dem erwähnten Flugplatz, der sowohl von Verkehrs wie auch Militärflugzeugen benützt wurde. Er machte einen ziemlich verkommenen Eindruck; rechts und links der Zufahrtsstraße lagen Flugzeugwracks sehr dekorativ verteilt.

Auch im Flugwesen sind die Russen sehr praktisch. Sie scheuen sich nicht, eine nicht vollbesetzte Verkehrsmaschine mit Gütern aller Art fertig zu beladen. Transportraum ist sehr rar und so werden Transportmittel aller Art stets sofort und ohne Rücksicht auf Tageszeit oder Feiertage entladen oder beladen. Die Standgelder sind sehr hoch.

Zwei russische Maurer und eine Anzahl Deutscher, darunter auch ich, mauerten nun viele Wochen. Die Russen waren recht geschickt, aber auch sehr großzügig bei ihrer Arbeit. Die Ziegel wiesen ungefähr unser Reichsformat auf und eine gute Qualität. Später, als die Mauern in die Höhe wuchsen, kamen Transportbänder und elektrische Aufzüge heran, die uns die Arbeit erleichterten. Der Aufwand an Hilfskräften erschien mir auf allen Baustellen sehr hoch.

Vorerst bewachte uns ein gemütlicher, alter Zivilist mit einer Vogelflinte und so spielte sich in der Mittagspause ein reger Handel mit der vorbeikommenden Zivilbevölkerung ab. Sie kaufte gerne bei uns. Wir stellten in der Freizeit im Lager die unwahrscheinlichsten Dinge her: Spielwaren, elektrische Kocher, Heizöfen, Messer, Gabeln, Löffel, Wäscheklammern, Werkzeuge, Gemälde, Schnitzereien und tausend andere Dinge.

All dies mußte durch zwei kontrollierende Wachen geschmuggelt werden. Oft gab es Pleiten, aber bald erwarben wir uns Routine und brachten auf der Baustelle in den Zwischenwänden einer Baracke ein stattliches Lager zusammen. Mittags ging es dann zu, wie auf einem Basar.

Die russische Leichtindustrie wurde zugunsten der Schwerindustrie vernachlässigt und so waren viele Gegenstände des täglichen Bedarfs nicht in ausreichender Zahl oder schlechter Qualität zu haben. Unsere Waren machten häufig einen primitiven Eindruck, erwiesen sich aber als solid und haltbar. Das sprach sich herum.

Ich hatte einen bunten Hampelmann konstruiert, der sich einen leicht schrägen Barren herab dauernd überschlug. Eines Tages besuchte ich einen nahen Kindergarten. Die Kleinen saßen unter Aufsicht im Freien und es gab eine Revolution. Leider warf mich die sehr unfreundliche Leiterin hinaus, ehe ich bei ihren Erzieherinnen etwas an den Mann gebracht hatte.

Von dem Erlös unserer Geschäfte kauften wir uns Brot. Das übliche feuchte Schwarzbrot kostete damals 2 .70 Rubel je Kilo. Seit der Währungsreform im Dezember 1947 war die Kaufkraft der Massen gewachsen, zudem hatte man die Preise für einige wichtige Nahrungsmittel gesenkt. Der Rubel hatte eine Abwertung 1:10 erfahren, doch wirkte sie sich offensichtlich günstig aus.

Man konnte das an der steigenden Vielfalt der auftretenden Waren deutlich beobachten. So sah man in den Brotmagazinen herrliche Backwaren, vor allem ein großartiges Weißbrot, das allerdings durch seinen Preis von 7.5o Rubel für uns selten erschwinglich war. Fleisch, Fett und Zucker blieben nach wie vor recht teuer.

Jeden Tag passierten mehrere Beerdigungen unsere Straße. Meist saß die engere Trauergemeinde um den Sarg herum auf einem Lastwagen, der Rest der Trauernden marschierte ungezwungen hinterher. Die kleinste Beerdigung, die ich sah, bestand aus einer Mutter, die auf dem Arm einen winzigen Kindersarg trug.

Die größte eröffnete ein prunkvoller, weißer Totenwagen, von sechs Schimmeln gezogen, die weißgekleidete Kutscher mit weißen Zylindern an den Zügeln führten. Hinter dem Wagen gingen einige Zivilisten, ein General in Uniform und eine Kompanie Stabsoffiziere. Den Schluß bildete ein Ehrenzug Rotarmisten.

Eines Tages hoben wir neue Fundamente aus und stießen dabei auf die Überreste einer Schmiede. Sensen und Sicheln, verrostetes Werkzeug und vieles andere kam zutage. Darunter fand ich auch zwei Töpfe mit Ölfarbe. Unter einer dicken Schicht war sie noch wohlerhalten und ich beeilte mich, sie in der Mittagspause sogleich zu verkaufen. Ich betrat also den Hof eines einzelnen Hauses und wurde, ehe ich mich versah, von einem wütenden Hund angefallen und mehrfach gebissenior Dennoch schloß ich meinen Handel ab und bat dann erst unseren russischen Prorab ( Vorarbeiter ) um etwas Verbandzeug. Er aber rief sofort das Lager an und schickte mich einstweilen in ein nahes Krankenhaus. Trotz zahlreicher wartender Patienten wurde ich sofort vorgenommen und die jüdische Ärztin behandelte mich sehr nett und aufmerksam.

Krankenhausbehandlung ist in Rußland weitgehend kostenlos. Dann fuhr mich ein Lastwagen, der mit einer Schwester vom Lager gekommen war, heim.

Drei Wochen arbeitete ich nun vormittags im Lager als Maurer, nachmittags fuhr ich jeden Tag mit der Schwester oder einem Wachsoldaten in das Pasteur-Institut in der Nähe des NewskiProspekts, der schönsten Straße Leningrads, um gegen Tollwut eine beachtliche Spritze in den Bauch zu bekommen. Der behandelnde Arzt wie auch die dortige Schwester, eine ältere Frau, waren sehr entgegenkommend.

Am vorletzten Tage rief mich die Schwester vorsichtig beiseite,drückte mir schnell fünf Rubel in die Hand und sagte leise, ihr tue immer das Herz weh, wenn sie mich sehe. Ich dankte gerührt und bewahre ihr bis heute ein dankbares Gedenken.

Meist bummelte ich anschließend noch mit meiner Begleitung durch die Straßen und sah dabei viel Interessantes. Die Passanten musterten mich meist sehr genau, doch selten feindselig. Unser Wachleutnant F. hatte mir gleich in den ersten Tagen eine neue Uniform verpassen lassen, weil ihm mein altes Zeug zu schäbig erschien, und so konnte ich mich schon sehen lassen. Den Ort meines Unfalls wußte ich natürlich zu verschweigen, um dem Hundebesitzer und auch mir Scherereien zu ersparen. Wieder rückte ich zum "Neuen Dorf" mit aus. Wieder wurde gemauert. In dieser Zeit sah ich erstmalig einen Stachanow-Maurer, der einige Tage zuvor einen Stalin-Preis von l00 000 Rubeln erhalten hatte, bei der Arbeit. Er vermauerte in einer Schicht 18000 Ziegel, ein wahres Wunder!

Ich war begierig, seine Methode kennenzulernen. Mit mehr als einem Dutzend Hilfskräften schaffte er das. Sie richteten alles auf sein Geheiß hin und er besorgte den Rest.

Die Zeitungen berichteten einmal von dem besten russischen Maurer in Moskau, der in acht Stunden 35000 Ziegel vermauerte. Vermutlich hat er mit 25 Hilfsarbeitern und Handlangern gearbeitet. Bei uns würde Schmeling diese Zahl von Steinen nicht einmal vom Wagen zu werfen vermögen.

Das sind eben die Nachteile der kapitalistischen Arbeitsmethoden.

Eines Abends ereignete sich auf der Heimfahrt ein schweres Unglück. Wir wurden mit zwei Lastwagen weggebracht, jeder trug einen hausähnlichen Aufbau, nach hinten offen, unter dem wir saßen. Der Fahrer des ersten Wagens mußte offenbar betrunken sein; denn er nahm eine Kurve nach einer Newabrücke so schnell u. scharf, daß die etwa 30 Kriegsgefangenen herunterflogen und das Chassis auseinanderbrach. Dies geschah in einer sehr belebten Gegend und sofort eilten zahlreiche Russen von allen Seiten herbei, um den Deutschen zu helfen. Zehn Mann wurden schwer verletzt. Ein fremder Lastwagen kippte sofort seine Ladung in den Straßengraben und brachte die Verletzten in ein Krankenhaus.

Man legte sie vorläufig auf dem Hof nieder. Zahlreiche Fenster öffneten sich und die anderen Patienten bewiesen ihr Mitgefühl, indem sie einen Regen von kleinen Liebesgaben über die Armen unten ergehen ließen.

Glücklicherweise kamen alle gut davon.

Je nachdem es nottat, wechselten wir unsere Arbeit. Zeitweise fungierte ich als Maschinist an einer großen Betonmischmaschine, dann wieder arbeitete ich als Zimmermann, errichtete Decken und Wände aus Balken und Brettern oder nagelte Suckleisten an, wie ich das früher schon beschrieb. Maurerarbeiten wechselten mit Erdarbeiten und so verging der Sommer 1948.

Eines Morgens begegneten uns am Fabriktor, als wir unsere Lastwagen erwarteten, zwei deutsche Schulkinder. Man erkannte sie sofort als Nichtrussen an ihren Gesichtern und ihrer Kleidung. Sie waren vor einigen Tagen aus Jena gekommen und wohnten in unserem Block in der Spaskaja. Der Vater hatte als Facharbeiter bei Zeiß gestanden. Eines Morgens hatte man ihnen eröffnet, sie müßten in wenigen Stunden ihre Sachen gepackt haben und nach Rußland verziehen. Sie bewohnten zwei Zimmer, der Vater verdiente gut. Es ging ihnen hier besser, als in der Ostzone. In der Schule, die eigens für deutsche Kinder eingerichtet war, lernten sie russisch, aber auch deutsch.

Wir alle hatten Tränen in den Augen, als die Kinder davongingen.

In der Folgezeit zogen noch andere deutsche Familien in unserer Nähe ein, auch in der Stadt begegneten uns in zunehmendem Maße Lastwagen, auf denen deutsche Zivilisten saßen und uns zuwinkten. Häufig handelte es sich um Ingenieure, die teils freiwillig, teilweise gezwungen hierher gekommen waren. Bald ergaben sich auch Gelegenheiten, solche Leute zu sprechen. Es erging ihnen materiell gut, sie klagten nicht.

Eines Morgens, es war am 8. September 1948, standen wir abmarschbereit am Tor, als plötzlich 30 Mann verlesen wurden, die nicht zur Arbeit gehen sollten. Auch ich gehörte zu ihnen. In der Lagersauna versah man uns mit frischer Wäsche, wir badeten und mußten unsere Sachen packen.

Niemand wußte oder erfuhr was vor sich ging.

Gegen Abend brachte uns ein Lastwagen unter scharfer Bewachung zum Newahafen. Zahlreiche andere Gefangenengruppen standen umher.

Es wimmelte von Wachen, Stabsoffizieren und Dolmetscherinnen mit Aktenbündeln. Vor uns auf dem Flusse lagen mehrere Holzoder Eisenkähne mit einem Schlepper. Sein Bug zeigte flußaufwärts.

Bald wurden wir in die Kähne verfrachtet, wir lagen sehr eng. Dann setzte sich der Schleppzug in Bewegung, irgendwohin. Die Posten wollten die Lucken schließen, doch wir erhoben ein solches Gebrüll, daß sie davon abließen. Auf Deck stand nur unser Koch mit seiner Feldküche.

Ein Unterleutnant und eine Ärztin führten das Kommando.

Unser Koch berichtete regelmäßig, was er sehen konnte. Es ging auf der Newa nach Osten. Später wurde ein riesiger See ausgemacht, um den unser Weg herumführte. Es mußte der Ladoga-See sein. Weiter ging die Fahrt einige Tage teils auf einem Fluß, teils auf einem Kanal dahin. Wir lagen wie die Heringe im Bauch der Schiffe. Ein anderer großer See kam in Sicht, der Onega-See. Auch um ihn führte der Kanal herum. Splitternackt durften wir aussteigen und in dem eiskalten Wasser baden. Am Ufer erhoben sich einzelne Holzhäuser und bald strömte die Bevölkerung.zusammen, meist Frauen, und bestaunte uns. Wieder versanken wir in den Schiffen.

Gelegentlich erblickten wir hohe, hölzerne Schleusenwände, zwischen denen die Wasser rauschten. Die Landschaft schilderte unser Koch als nicht sehr einladend, meist sah er nur Wälder. Nur an beiden Ufern zogen sich kettenartig Siedlungen hin. An einer Schleuse empfing der russische Offizier von einem Uniformierten einen Brief, offenbar das weitere Fahrtziel. Nach neuntägiger Fahrt lud man uns aus.

Kategorie: Erinnerungen von Kriegsgefangenen | Hinzugefügt von: Anatoli
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