In Woschega, ca. 180 km nördlich von Wologda in der Nordwestregion der Russischen Föderation liegt ein Friedhof für deutsche Kriegsgefangene. Erst nach 60 Jahren habe ich erfahren, dass mein Vater dort begraben liegt. Im vergangenen Jahr habe ich zum erstenmal den Friedhof besuchen können. Der Zustand war nicht zufriedenstellend, da das Areal total zugewachsen und verwildert war und infolgedessen überhaupt nicht betreten werden konnte.
Wieder in Deutschland habe ich den VDK angesprochen, ob eine Instandsetzung dieses Friedhofes geplant ist. Der Friedhof war dort zwar bekannt, aber eine Instandsetzung war nicht geplant. Ich habe mich daraufhin entschlossen die Pflege im Rahmen meiner Möglichkeiten selbst in die Hand zu nehmen. Angemessene Gräberpflege ist oder sollte jedenfalls Bestandteil unserer Kultur sein. Umso mehr, da diese Soldaten das schwere Schicksal der Kriegsgefangenschaft traf, das sie sicherlich nicht verdient hatten.
Ohne die Genehmigung der örtlichen Verwaltungsbehörde konnte ich natürlich nicht agieren. Deshalb habe ich Herrn Wesselkow, Landrat von Woschega angeschrieben und um Genehmigung zur Instandsetzung des Friedhofes gebeten. Unterstützt wurde ich dabei von Herr Sytschow, Amt für Datenverarbeitung Wologda, der mir auch die Korrespondenz übersetzt hat. Meine Russischkenntnisse sind nicht so berauschend. Herr Wesselkow antwortete mir auch umgehend und gab mir die folgenden Informationen:
- Das Gelände des Friedhofes wurde 1999 an die Assoziation WOJENNIE MEMORIALY in Moskau abgetreten;
- Die Assoziation hat dann auf Kosten des ungarischen Verteidigungsministeriums ein Kreuz zum Gedenken an die dort begrabenen ungarischen Soldaten aufgestellt.
Da das Gelände an WOJENNIE MEMORIALY abgetreten war, habe ich dann mit Unterstützung des Moskauer VDK-Büros, die Erlaubnis zur Pflege eingeholt. Die Assoziation hatte keine Einwände gegen mein Vorhaben.
Ausserdem bat mich Herr Wesselkow, mich mit dem Leiter der Architekturabteilung von Woschega abzustimmen, was ich auch dann getan habe.
WOJENNIE MEMORIALY hatte mir letzten Jahr mitgeteilt, dass mein Vater im Quadrat 6 Grab 2 beigesetzt worden war. Natürlich ist das Grab ohne Plan nicht zu lokalisieren. Aber ein Plan des Friedhofes von Woschega war im Militärarchiv in Moskau nicht vorhanden. Schade, das wäre zu schön gewesen!
Um so überraschter war ich, als ich in Wologda plötzlich, sofort nach meiner Ankunft den Plan in der Hand hielt. Über Herrn Sytschow hatte ich Kontakt zu dem russischen Historiker Dr. Alexander Kusminych, der sich nebenberuflich viel mit dem Thema Kriegsgefangenschaft im Raum Wologda / Archangelsk beschäftigt.
Herr Dr. Kusminych hat alle verfügbaren Informationen über Woschega aus dem Archiv in Wologda zusammengetragen. Neben dem Plan habe ich auch eine Liste der beigesetzten Soldaten erhalten, in der mein Vater auch aufgeführt war. Ich war sprachlos, dieses nach jahrzehntelangem Rätselraten! Aus der Liste von Herrn Dr. Kusminych geht hervor, dass auf dem Friedhof 371 Gefangene beigesetzt worden sind, überwiegend deutsche Soldaten 338, daneben auch 15 Österreicher, 4 Ungarn, 2 Tschechen, 3 Polen, 3 Litauer, 4 Esten, ein Franzose und ein Spanier.
Sofort nach meiner Ankunft in Wologda, bin ich nach Woschega gefahren um den Friedhof zu besuchen. Als ich mit meiner Fotoausrüstung um ihn herumging, sprach mich ein Pensionär an, der dort seine Ziegen hütete, was ich denn hier machte. Ich habe gesagt, dass mein Vater hier begraben liegt. Antwort, ja, ja hier liegen viele Deutsche. Ich dachte frag ihn doch mal, ob er weiss, wo das ehemalige Kriegsgefangenenlager war. Das hätte ich natürlich auch brennend gewusst.
"Ein Lager gab es in Woschega nicht", gab er zur Antwort, "sondern nur ein Hospital".
"Wo war das Hospital?"
"Dort in der Schule".
Weiter konnte ich mich mit ihm ohne Dolmetscher nicht unterhalten.
Sofort habe ich die Schule gesucht, und bin hinein und durch die Klassenzimmer gegangen. Es ist schon ein sonderbares Gefühl, wenn man nach Jahrzehnten der Ungewissheit im Sterbezimmer seines Vaters steht.
Wieder zurück in Wologda habe ich dann Herrn Schwetzow, Leiter der Architekturabteilung angerufen und ihm anschliessend in Wologda mein Anliegen vorgetragen. Herr Schwetzow hat eine Baubrigade für mich engagiert, die das Areal des Friedhofes abholzen sollte. Weil sie in Woschega keine Arbeit mehr fand, war diese Baubrigade im Begriff nach Moskau fahren, und war deshalb gern bereit den Auftrag anzunehmen und hat ihn dann auch in sehr kurzer Zeit erledigt.
Von Herrn Schwetzow habe ich dann auch erfahren, dass sich in der Schule ein kleines Museum über das ehemalige Hospital befindet. Betreut wird es von der Schulleiterin. Ausserdem war ich überrascht zu hören, dass die früheren Krankenschwestern des Hospitals jedes Jahr am Tag des Sieges in Woschega zusammenkommen und über alte Zeiten reden. Auch in Woschega selbst lebten noch zwei von ihnen.
Selbstverständlich musste ich das Museum besuchen und auch mit den Babuschkas sprechen. Die Schulleiterin war sehr entgegenkommend. Obwohl Ferien waren hat sie ihre Zeit geopfert, um mir das Museum zu zeigen. Es war die Geschichte des Hospitals aufgeschrieben, es gab einige Gegenstände, die von Kriegsgefangenen angefertigt worden waren und auch der ehemaligen Krankenschwestern wurde mit Fotos und Lebensläufen angemessen gedacht. Als Dankeschön werde ich selbstverständlich etwas zum Museum beitragen, meinen Vater betreffend. Die Leiterin des Museums konnte sich noch daran erinnern, wie sie als Schulmädchen im Winter über den Friedhof mit Schiern gelaufen ist und die Holzkreuze auf den Gräbern gesehen hat. Sie hatte versucht die Namen zu lesen, was aber nicht mehr aufgrund der Verwitterung nicht mehr möglich war. Der Friedhof hiess in Woschega immer "der deutsche Friedhof".
Die Babuschkas waren noch sehr lebendig und haben aus der Zeit des Lazaretts erzählt. Während des Krieges wurde die Schule als Lazarett umfunktioniert. Die Krankenschwestern sind mit Lastwagen durch die Dörfer gefahren und haben Betten, Decken, Möbel etc. eingesammelt um das Lazarett zu bestücken. Im Anfang des Krieges ab 1941 lagen russische Soldaten dort. Dann im Jahr 1944, nachdem die Front sich weiter nach Westen geschoben hatte, kamen deutsche Kriegsgefangene ins Hospital. Die Auflösung des Lazaretts erfolgte dann im November 1947.
Die ersten Deutschen, die kamen waren so schwach, dass sie noch nicht einmal in der Lage waren zu essen. Später wurde es dann besser. Die Gefangenen lagen in ordentlichen Betten, hatten auch genügend Decken. Das Hospital war ausserdem auch gut geheizt. Mangel herrschte natürlich an Medikamenten und Nahrungsmitteln, 1944 war das schlimmste Hungerjahr. Todesursache war meistens Dystrophie (Hunger) und Lungenentzündung.
Die Verstorbenen wurden nicht in Massengräbern, sondern ordentlich in Einzelgräbern ca. 2m tief beigesetzt. Jedes Grab erhielt ein Holzkreuz mit dem Namen. Auch in den Sterbelisten ist nicht nur der Todestag, sondern auch der Tag der Beisetzung vermerkt. Fast immer folgte die Beisetzung am nächsten Tag.
Ich habe jetzt nach den langen Jahren der Ungewissheit sehr viele Informationen über den Verbleib meines Vaters bekommen und werde natürlich versuchen, mich weiter um den Friedhof in Woschega zu kümmern.
Reinhold Hammerschmidt Am Kucksberg 19 44227 Dortmund Tel.: 0231/7900568 e-mail: reinhold.hammerschmidt@t-online.de |