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Im Gefangenenlager bei Tscherepowieze
03.07.2013, 14:26

24.10.1946 / Die Zeit / Im Gefangenenlager bei Tscherepowieze / Jan Molitor

Ein Heimkehrer berichtet

Schon einmal hat „Die Zeit“ betont, wie wichtig und schwierig es ist, die Wahrheit über die deutschen Kriegsgefangenenlager in Rußland zu erfahren, um der Kriegsgefangenen und um ihrer Angehörigen willen, die zwischen Hoffnung auf Wiederkehr und Verzweiflung schwanken. Der folgende Bericht ist eine nur wenig stilisierte Zusammenfassung einer ausführlichen Schilderung, die ein jünger Heimkehrer mündlich gab.

Ich heiße Siegfried J., und das Gefangenenlager hatte die Nummer 437. Es liegt bei Tscherepowieze in der Nähe von Wologda im nördlichen Rußland. Bis Moskau beträgt die Entfernung 600, bis Berlin 2000 Kilometer. Wie Tscherepowieze auf deutsch heißt, weiß ich nicht. Es ist für mich ein Name für Einsamkeit und Verlassenheit. Die Landschaft ist flach, besteht aus Wäldern und Sümpfen, und ich habe dort einige Menschen kennengelernt, die ich mit einem Spaten oder sonst einem Gegenstand, der mir zur Hand wäre, erschlagen könnte, wenn ich nicht wüßte, daß Mord und Totschlag endlich aufhören müssen, damit die Welt zur Ruhe kommt, Ich muß leider sagen, daß die Menschen, von denen ich spreche, Deutsche sind. Aber man muß vergessen.

Eines Tages hoffe ich den Namen eines deutschen Majors zu vergessen, der einem armen Landser das letzte Stück Brot stahl und zur Erklärung – nicht zur Entschuldigung – ungerührt meinte: „Wenn ich doch Hunger hatte!“ Überhaupt muß ich sagen, daß die Offiziere meist schlechtere Haltung zeigten als die Soldaten und daß sie im Bemühen, sich Erleichterungen und Einfluß zu verschaffen, die Grenze der Anständigkeit sehr! oft überschritten. Diese Feststellung fällt mir nicht leicht, denn ich bin selber Offizier gewesen. Aber was soll man von dem Major denken, einem Angehörigen der NSDAP seit 1931, der am 1. Mai 1946 aus freien Stücken ein Huldigungs-Telegramm an Stalin sandte? „Wir wollen arbeiten; Wir demonstrieren für Wiedergutmachung.“ Als danach auch diejenigen zur Arbeit geführt wurden, die bisher davon befreit gewesen, herrschte großes Erstaunen. Nun arbeiteten alle – bis auf den Major, der auch in der neuen politischen Situation den rechten Ton getroffen hatte.

Von solchen Beispielen könnte ich leicht eine ganze Sammlung herausgeben. Als ein Offizier, der bis zuletzt sehr aktiv in der NSDAP gewesen war, jetzt aber mit bemerkenswerter Geschwindigkeit das politische Hemd gewechselt und sich schon zum Redner des Lagers aufgeschwungen hatte, in einem seiner Vorträge über die deutschen Konzentrationslager sich in schwungvollen Phrasen verbreitete, sprang der einstige kommunistische Jugendführer Antemann auf, der drei Jahre im KZ zugebracht hatte und verbat es sich, daß Leute aus dem Kreise der KZ-Bewachung plötzlich das große Wort über die dort geschehenen Greuel führten. Worauf der andeie es erreichte, daß Aufermann, der eigentlich hätte entlassen werden müssen – er hatte willig seine Arbeit geleistet, obwohl er einen Pneumothorax trug –, für diesmal noch im Lager festgehalten wurde. Seit der kurzen Zeit; da ich in Deutschland bin, habe ich mir keine Vorstellung vom Wirken der Parteien machen können. Solche Leute jedenfalls wie Aufermann waren vorbildlich in ihrer Kameradschaft. Die neuen Kommunisten in unserem Lager jedoch, die rasch den Mantel nach dem Wind gehängt hatten, wären der Schrecken ihrer Umgebung. Sie waren stalinistischer als Stalin, und ihr Inneres war ein Gemisch von nationalsozialistischer Sturheit mit neuer kommunistischer Radikalität. Als in den zu Moskau gedruckten „Nachrichten für Kriegsgefangene“ die Meldung stand, daß in der amerkanischen Zone die deutschen Arbeiter vor Entkräftung an der Drehbank zusammenbrächen, wohingegen aus der russischen Zone im selben Blatt nur Lobenswertes gemeldet wurde, wagten es einige Kamraden, die Meldung anzuzweifeln. Die politischen Lagerpropheten – Deutsche also – griffen ein, und jene hatten ihren mangelnden Glauben durch erhöhte Arbeitsleistung zu büßen.

Unsere Wächter

An diesem Punkt muß ich wohl erklären, warum die Deutschen und nicht die Russen die große Rolle spielen. Lager 437 enthielt 5000 Gefangene, Offiziere und Mannschaften, die von 50 russischen Offizieren und ebensoviel russischen Soldaten bewacht wurden, von denen die meisten wenig über 17 Jahre zählten. Der russische Lagerkommandant war korrekt, ja von menschlicher Güte. Die russische Bewachung, durchweg einfache, brave Burschen, störten uns wenig. Sie waren eher Leidensgenossen als Unterdrücker, sie besaßen nicht viel mehr als wir, sie aßen aus alten Konservendosen, sie waren wie wir verurteilt, in der Einsamkeit zwischen Wäldern und Sümpfen zu leben. Wir hätten leicht aus. dem Lager entkommen können, aber die Tatsache, daß die in Komsomolzen-Verband geeinigte russische Jugend in den Gebieten von Tichwin und Leningrad mit großem Erfolg den nationalen Sport betreibt, flüchtige Deutsche zu fangen; veranlaßte uns, die Fluchtbegierde immer wieder einzudämmen.

Obwohl nur wenig bedacht, saßen wir also fest, und dank der geringen Bewachung lag die Organisation innerhalb des Lagers, zum Teil auch die Lenkung der Arbeitskolonnen, in deutschen Händen. Diese Vertrauensmänner ohne Vertrauen bildeten den „Deutschen Klub“. Sie arbeiteten nicht und genossen unter vielen Vorteilen zum Beispiel den, daß sie ein Schild. „Pressekonferenz. Nicht stören!“ an ein; Tür anbringen durften, hinter der sie andauernd große Dinge beratschlagten, angefangen von kleinlichen Schikanen bis zu Telegrammen an Stalin. Einige von ihnen kamen aus den Reihen des Komitees „Freies Deutschland“ und hatten bis zum Kriegsende die Fahne „Schwarzweißrot“ geführt, die meisten aber – zum Beispiel der „Lagerphilosoph“, der SA-Standartenführer gewesen – waren, wie gesagt, alte Nazis. Sie alle hatten Schulungskurse absolviert, und veranstalteten Vorträge, sie alle füllten irgendwelche Akten aus, hielten Besprechungen ab, trafen Anordnungen. Bei Vernehmungen durch NKWD-Abordnungen – durch die Nachfeiger der GPU also – pflegten sie zu beteuern, daß sie niemals auf Russen geschossen und überhaupt unablässig die deutsche Kriegsführung sabotiert hatten. Einige von ihnen waren zu guter Letzt dann nicht wenig erstaunt, als von russischer Seite gesagt wurde: „Mögen die anderen entlassen werden, die armen Teufel, die gekämpft haben und verwundet sind! Die Verräter aber, die hier das große Wort führen, die Gesunden, bleiben noch ein bißchen in Gefangenschaft!“ Wenn auch die Hintergründe solcher wahrhaft salomonischen Urteile nicht immer ganz durchschaubar waren, so lag doch hierin ein wenigTrost und Gerechtigkeit und die Ursache dafür, daß die Männer vom NKWD mit ihren schmucklosen Uniformen und eigenartigen bläßlich grünen Mützen beim einfachen Landser beliebt waren.

Im Lager von Tscherepowieze hausten – ich sagte es schon – 5000 Kameraden. Auf dem Lagerfriedhof aber wohnten 16 000 Kameraden. Sie starben nicht etwa, weil die Russen so grausam waren, siestarben an der Grausamkeit Rußlands. Im Frühjahr zum Beispiel war es nachts noch sehr kalt, während bei Tage die Sonne tropisch glühte. 75 Grad Temperaturunterschied – welcher vom Krieg geschwächte Körper hält das aus! Die Russen, die dieses Klima aushielten, weil sie hier geboren waren, gebrauchten ihre eigenen Methoden gegen den Tod Wenn die Sterblichkeit 15 Prozent überstieg, wurden die deutschen Ärzte eingesperrt. Was sollten sie aber tun?

Wir lagen auf Holzpritschen, je hundert Mann auf einer Pritsche. Jeder hatte eine Decke, im Winter haben wir sogar Pelze getragen. Aber das enge Beieinander brachte es mit sich, daß fast jede Krankheit ansteckend wirkte. Freilich, viele begrüßten die Krankheit, weil sie auf Entlassung spekulierten oder weil sie hofften, sich vom Übermaß der Arbeit erholen zu dürfen. Wer die Ruhr hatte, trug eine Stuhlprobe zur russischen Chefärztin. Wer die Ruhr nicht hatte, konnte eine Probe kaufen. Sie kostete zuerst 1200 Gramm Brot, später, als jeder zweite Mann ruhrkrank war, 600 Gramm. Einige erzeugten die Ruhr künstlich, indem sie Seifenwasser tranken.

Peinliche Untersuchung

Über die Einteilung der Gefangenen in fünf Kategorien ist vieles bekanntgeworden. Diese Einteilung wurde in regelmäßig wiederkehrenden ärztlichen Untersuchungen korrigiert. Die Untersuchung ging so vor sich: Wir traten zu Hunderten, zu Tausenden an, machten eine Kehrtwendung, und die Chefärztin, die aus dem Baltikum stammende Frau Dr. von Seitz-, schritt die Front ab. Jetzt ließ jeder, der ihre Schritte kommen hörte, die Hose herunter. Nach dem sich nun darbietenden Anblick, ob einer eine glatte runde oder verschrumpelte faltige Hinterfront besaß, wurde die Kategorieeinstellung überprüft, wurde bestimmt, wer mehr oder weniger arbeiten und Nahrungszulage erhalten müßte.

Schwere Arbeit war Holzschlagen, bei der selbst in großer winterlicher Kälte 2,2 Festmeter geschafft werden mußten. Viel leichter war unsere Arbeit vorm Pflug. Zwölf bis vierundzwanzig Gefangene ersetzten ein Pferd; ein anderer Gefangener spielte den Bauern hinterm Pflug. Die Köpfe gesenkt, die Stirnen am Boden, den Rücken gekrümmt, so zogen wir, die weder Traktoren noch Pferde oder Kühe zur Verfügung hatten, Furche auf und Furche ab. Bald war die Welt so eintönig grau wie die Erde, die sich unter unseren stolpernden Füßen dehnte.

Abends lernten wir, daß die SED die Partei des Aufbaues sei. Wir aber sprachen vom Essen, von Deutschland, von den Frauen. Seitdem wir ein Kabarett hatten, in dem Männer Frauenrollen spielten, war das Thema Weib, das lang vergessene, wieder ein Gesprächsstoff geworden. Nicht daß wir sexuelle Nöte hatten – unser Leben war mit Arbeit und Hunger ausgefüllt. In unserm Innern war nicht viel. Platz, nur Platz für die Sehnsucht nach Deutschland...

Kategorie: Medienberichte | Hinzugefügt von: Anatoli
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