Offiziers-Gefangenenlager 7150 Grjasowez, knapp 500 Kilometer nördlich von Moskau. Anfang Mai erreicht uns die Nachricht: Hitler ist tot. Uns bewegen gemischte Gefühle. Niederlage oder Befreiung? Alle Opfer umsonst? Werden wir jemals die zerstörte Heimat wiedersehen? Viele unserer gefangenen Kameraden waren nach den verlorenen Kesselschlachten 1944 im jämmerlichen Zustand durch Moskaus Straßen getrieben worden – als Zeichen des Triumphes der Sowjetarmee.
Kein Wunder also, dass die Stimmung im Lager am 8. Mai 1945 kaum schlechter hätte sein können. Hinzu kam, dass Arbeit bisher nur verpflichtend war, soweit sie dem Betrieb des Lagers diente. Jetzt aber galt unbeschränkte Zwangsarbeit. Ich wurde im Oktober zu einem Außenkommando in der nahen Stadt Wologda eingeteilt. Es handelte sich um Hilfsarbeiten am Neubau eines Fabrikgebäudes. Dort wurde uns mit unerbitterlicher Härte die Wiedergutmachungsrolle aufgedrückt, also jene Last, die die Sowjets den Millionen deutscher Kriegsgefangener zugedacht hatten.
Aus einem primitiven Massenquartier, in dem auch russische Familien in drangvoller Enge hausten, wurden wir bei Dunkelheit auf Lastwagen zur Baustelle gefahren und abends im Dunkeln wieder zurückgebracht. Für die Russen gab's eine Mittagsmahlzeit in einer warmen Baracke, während wir draußen in der Kälte saßen.
Man mag es heute kaum glauben: Bei 30 Grad unter null wurden auf Blechen über offenen Feuern Ziegel, Sand, Zement und Wasser erhitzt und anschließend auf den Gerüsten verarbeitet. Die schlimmste Schinderei aber war, wenn nachts ein Zug mit Baustoffen einlief und wir zum Entladen herausmussten. Weihnachten 1945 etwa – bei fast 50 Grad unter null.
Zwar führte Oberst Sirma, der Kommandant des Lagers, ein vergleichsweise „tolerantes" Regime – so mussten wir nie auf unsere tägliche Brotration verzichten –, doch im Jahr 1947 tauchte ein „fliegendes Standgericht" auf, das willkürlich lange Haftstrafen für viele Kriegsgefangenen verhängte. So wurde ein Kamerad, der gestand, dass seine bespannte Einheit ihre Pferde im Sommer mit Grünfutter versorgt hatte, wegen „Diebstahls sowjetischen Eigentums" zu zwölf Jahren Arbeitslager verurteilt.
Immer, wenn ich an den 8. Mai 1945 denke, drängen sich die schrecklichen Erlebnisse in Russland zurück in meine Erinnerung. Ich danke Gott, dass ich „schon" 1948, drei Jahre nach Kriegsende, wegen der Folgen einer Verwundung entlassen wurde und die Gefangenschaft insgesamt fast ohne Schäden überstanden habe. Heute empfinde ich es als Geschenk, dass wir in unserem Land jahrzehntelang schon in Frieden und Freiheit leben dürfen.
Hermann Scham, Möckmühl Quelle: http://www.merkur.de |