24.11.2008 / Tages-Anzeiger / Er lag schon im Sterbezimmer und überlebte die sowjetische Gefangenschaft /Antonio Cortesi
Eine Ausstellung thematisiert erstmals in der Schweiz das Schicksal von Nazi-Soldaten in russischen Gefangenenlagern. Föhr war vier Jahre interniert und lebt heute in Zürich. Foto von Reto Oeschger: Wahlschweizer Harald Föhr konnte lange nicht über das Erlebte reden. Seit einem Besuch in Russland hat sich die Redeblockade gelöst: "Wer vor Erschöpfung zusammenbrach, blieb für immer liegen." Die lebensgrosse Puppe eines bewaffneten russischen Wachmanns am Eingang der Ausstellung wirkt auf den Besucher kaum bedrohlich. Doch Harald Föhr greift sich an die Brust und erschaudert. "Dieses Gefühl bringt man nie mehr los", sagt er. Harald Föhr, Jahrgang 1925, aufgewachsen in Berlin, war als 19-Jähriger in die deutsche Wehrmacht eingezogen worden. In sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet er im Frühjahr 1945, zwei Jahre nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad. Was dann geschah, erzählt der ansonsten lebensfrohe Senior mit einer Mischung von Bedrückung und Triumph. Den Widerstand auf der Brust getragen Eine Vitrine zeigt zwei Gegenstände, die Föhr unter Lebensgefahr über die Zeit im Lager retten konnte: einen Siegelring und eine Uhr. "Wer mit Wertsachen erwischt wurde, wurde auf der Stelle erschossen", sagt Föhr. Er aber hatte Glück. Er hielt die Erinnerungsstücke Tag und Nacht auf der Brust unter dem Hemd versteckt - als Symbol für den inneren Widerstand. "Wir waren wehr- und rechtlos. Dass ich mein Leben für etwas aufs Spiel setzte, gab mir in dieser Situation die Kraft zum Überleben." Die Lagerinsassen wurden für den Strassen- und Häuserbau eingesetzt. Am schlimmsten waren jene dran, die ins "Holzkommando" eingeteilt wurden: Das Holz musste im Winter bei bis zu 50 Grad minus aus zehn Kilometer Entfernung auf einem Schlitten herangeschleppt werden. "Wer dabei vor Erschöpfung zusammenbrach, blieb für immer liegen." Das Essen: drei Rationen wässriger Kohlsuppe plus 200 Gramm Brot. "Wir waren total ausgemergelt." Hinzu kamen die katastrophalen hygienischen Bedingungen. "Wenn wir auf den Pritschen lagen, regneten die Wanzen buchstäblich auf uns herunter." Das Qualvollste war aber die Ungewissheit: "Wir beneideten jeden Schwerverbrecher, der ein Strafmass hatte und sich gedanklich auf das Ende der Pein einstellen konnte." Noch heute sucht er den Lebensretter Föhr wurde im März 1949 heimgeschickt. Und er sucht bis heute nach jenem Kameraden, der ihm 1947 im Lager das Leben gerettet hatte. Föhr lag mit Bauchtyphus, hohem Fieber und bloss noch 45 Kilogramm Körpergewicht im "Sterbezimmer" und glaubte zu verdursten. "Eines Morgens wurde mir aber ein neuer Sanitäter zugeteilt, der mir endlich Wasser brachte." Zurück im alten Beruf - das half Glück habe er auch nach seiner Heimkehr gehabt. Mutter und Schwester hatten den Krieg in Berlin überlebt, und dank früherer Kontakte konnte der ausgebildete Schauspieler in seinem einstigen Metier bald wieder Fuss fassen. Das half dem vom Lagerleben Traumatisierten, sich rasch wieder in der Normalität zurechtzufinden. Über seine Leidensjahre reden konnte er aber lange nicht. Das Schweigen brach er erst 1994, nachdem er erstmals wieder nach Russland gereist war, nach Wologda, rund 500 Kilometer nordöstlich von Moskau, dem Ort seiner Gefangenschaft. "Eine russische Gastfamilie nahm mich, den angeblichen Nazi-Verbrecher, wie einen verlorenen Sohn auf. Diese versöhnliche Geste hat mir die Zunge gelöst." Eine Nazi-Gedenkausstellung? 1959 hatte Föhr ein Engagement am Stadttheater Bern. Seither lebt er in der Schweiz. Er heiratete eine Iranerin, wurde Vater von drei Töchtern, Vertreter einer Getränkefirma, liess sich einbürgern und lebt heute in Zürich. Auch dank seines Glaubens hat der rüstige Rentner das seelische Gleichgewicht weitgehend wieder gefunden. Und lebt sein musisches Talent noch immer aus - derzeit als Alleinunterhalter am Piano im Restaurant Da Capo des Zürcher Hauptbahnhofs. Rund 3,5 Millionen Angehörige der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS gerieten zwischen 1941 und 1945 in russische Kriegsgefangenschaft. Ungefähr 2 Millionen kehrten heim - die letzten erst 1956. Im Krieg kämpften auch rund 2000 Freiwillige aus der Schweiz oder im Hitler-Deutschland lebende Schweizer auf deutscher Seite. Wie viele von ihnen in Kriegsgefangenschaft gerieten, ist ungeklärt. Aber auch ihnen ist die St. Galler Ausstellung gewidmet. Das Museum erhielt kritische Reaktionen: Die Ausstellung biete schweizerischen Landesverrätern eine Plattform und sei letztlich eine Nazi-Gedenkausstellung. "Völlig verfehlter Vorwurf" Die Kuratorin Nathalie Zellweger weist die Kritik zurück. Die Ausstellung bemühe sich um eine möglichst objektive Sicht des Themas. "Ein völlig verfehlter Vorwurf", sagt auch Harald Föhr, "es geht hier einzig darum, schwere menschliche Schicksale darzustellen. " Viele seiner Kameraden seien damals "wie die Fliegen weggestorben". Ihrer zu gedenken, sei sein einziges Anliegen. |