Viktor Konasov, Dozent an der Pädagogischen Akademie in Vologda, legte den Schwerpunkt seines Beitrags auf zwei Aspekte: zum einen die Heftigkeit und den propagandistischen Charakter der internationalen Diskussion über die Kriegsgefangenenfrage im ersten Nachkriegsjahrzehnt, zum anderen den manipulativen Umgang der Sowjetführung mit den Zahlen und ihre politisch-propagandistische Instrumentalisierung.
Grundsätzlich sei festzuhalten, daß die Zahlen des NKVD bzw. der „Hauptverwaltung für Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten" (GUPVI) aufgrund ihrer direkten Verantwortung für das Gefangenenwesen noch am ehesten als verläßlich gelten könnten. Für die Kriegsjahre vor 1945 ließen sich jedoch Unstimmigkeiten in der NKVD-Gefangenenstatistik feststellen. So gab ein Bericht von NKVD-Chef Berija vom 26. Februar 1943 die Gesamtzahl der bis dahin registrierten Kriegsgefangenen mit 290 029 an, von denen 33 111 verstorben seien. Drei Monate später, am l. Juni 1943, sprach die UPVI von 171 028 und ein dreiviertel Jahr später schließlich, am l. März 1944, von 252 028 Personen - rund 40 000 weniger als in den Angaben vom Februar 1943. Die Zahl der Verstorbenen wurde nunmehr mit 146 743 beziffert (für den l. Januar 1944 wurden 128 224 genannt). Durch organisatorische Veränderungen und besser geschultes Personal sei es jedoch gelungen, die Gefangenenstatistik spätestens seit Kriegsende verläßlicher zu machen.
Der manipulative Gebrauch der Kriegsgefangenenzahlen durch die politischen Stellen zeige sich - so Konasov - vor allem im Jahre 1947, als die sowjetische Nachrichtenagentur TASS am 14. März, zu Beginn der Moskauer Außenministerkonferenz, die Zahl von l 003 974 repatriierten und 890 532 noch im Gewahrsam der UdSSR befindlichen Kriegsgefangenen bekanntgab. Tatsächlich rechnete das NKVD (zu diesem Zeitpunkt schon MVD) damals jedoch mit 785 975 Repatriierten und 988 287 Gefangenen. Zusammen mit 294 724 bis dahin Verstorbenen ergab das eine Gesamtzahl von 2 068 986 deutschen Kriegsgefangenen. Der damalige Außenminister Molotov habe jedoch, aus bisher nicht klar ersichtlichen Gründen, Stalin den Vorschlag gemacht, der Öffentlichkeit gegenüber die Zahl der Repatriierten um mehr als 200 000 zu hoch und die der in sowjetischem Gewahrsam Verbliebenen um knapp 100 000 zu niedrig anzugeben. Die Zahl der l 939 063 Repatriierten, die TASS am 4. Mai 1950 meldete, ergab sich aus der Summe von l 003 974 Repatriierten und 890 532 Gefangenen gemäß der März-Erklärung von 1947; hinzu kamen weitere 58 103 Personen, die laut TASS erst in den vergangenen drei Jahren als Deutsche identifiziert worden waren. Abgerechnet wurden 13 546 von sowjetischen Militärtribunalen verurteilte und zu jenem Zeitpunkt offiziell zurückgehaltene deutsche Wehrmachtsangehörige. Würde man die im März 1947 veröffentlichten Zahlen mit insgesamt l 894 506 Kriegsgefangenen zur Grundlage nehmen, so ergäbe sich daraus, daß in den gut drei Jahren bis zum Mai 1950 kein einziger deutscher Kriegsgefangener - auch keiner der in der Zwischenzeit zusätzlich „entdeckten" 58 103 - verstorben wäre (!). Die in der Mai-Erklärung von 1950 mitgeteilte Zahl von 13 546 verurteilten Gefangenen habe ebenfalls nicht der Wahrheit entsprochen und sei um ca. 2 500 zu niedrig angesetzt gewesen.
Konasov demonstrierte die nachträgliche „Umfrisierung" der sowjetischen Gefangenenstatistik, indem er zwei Tabellen nebeneinander stellte: die internen NKVD-Zahlen vom März 1947, die den Ausgangspunkt für die TASS-Meldung vom 14. März d. J. gebildet hatten, und die Abschlußstatistik der Gefängnisverwaltung des MVD nach dem Ende der Repatriierungen im April 1956.
Kriegsgefangene im Gewahrsam der UdSSR |
|
Gesamtzahl |
Inhaftierte |
Repatriierte |
Verstorbene |
|
März 1947 |
April 1956 |
März 1947 |
April 1956 |
März 1947 |
April 1956 |
März 1947 |
April 1956 |
Deutsche |
2068986 |
2388443 |
988287 |
13 |
785975 |
2031743 |
294724 |
356687 |
Andere |
1148085 |
1097763 |
320404 |
27 |
633476 |
935943 |
194203 |
161793 |
Summe |
3217069 |
3486206 |
1308691 |
40 |
1419451 |
2967686 |
488927 |
518480 |
Zusammenstellung: V. Konasov.
Die Übersicht vom April 1956 stellt keine Fortschreibung der Aufstellung vom März 1947 dar.
Ein Vergleich der Angaben in der Spalte der Verstorbenen weist aus, daß in den neun Jahren zwischen dem März 1947 und dem April 1956 insgesamt 29 555 Kriegsgefangene verstorben sind. Dem widerspricht allerdings die Zahl von 61 965 verstorbenen Deutschen, die sich aus derselben Spalte errechnen läßt. Die Differenz von 52 410 entspricht genau jener Zahl, um die die Anzahl der Verstorbenen anderer Nationalitäten reduziert worden ist.
Seine ursprünglichen Hoffnungen hinsichtlich der Brauchbarkeit der Unterlagen der NKVD-Begleittruppen seien - so Konasov abschließend - leider enttäuscht worden. Zur Ermittlung der Größenordnung der bisher unbekannten Sterbefälle der Kriegsjahre gäben sie wenig her, da sie die transportbegleiteten Gefangenenkontingente nicht hinreichend unterschieden. Dennoch sollten die Forscher die bislang präsentierten Zahlen nicht als Schlußbilanz nehmen, sondern ihre Kräfte bündeln, um auf den bisher beschrittenen Wegen weiter voranzukommen. |