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Willi Krück: Kriegsgefangener in Stalins Sowjetunion
14.06.2013, 11:59

2. Mai 1945: Kriegsgefangener - als Verwundeter im Lazarett in Graal-Muritz/Mecklenburg
29. Mai 1948: Heimkehrer in Erfde (damals) Kreis Schleswig

Gefangenentransport gen Osten - Die Lager bis Juli 1946

Der Ort, der Güterbahnhof, wo es mir gelang, mein wertvollstes Stück, die Kompanie-Traditions-Armbanduhr zu "verscheuern", ist mir nicht mehr gegenwärtig. - Nach nüchterner Überlegung glaubte ich, jetzt auf dem Weg nach Russland, die Uhr nicht retten zu können. Ziemlich sicher würden wir ganz andere Klamotten bekommen und bis auf die Haut neu eingekleidet werden. Das Hüten-müssen der Uhr wäre eher belastend gewesen. Ich denke heute, es wäre mir vielleicht doch gelungen, sie heimzubringen. War das aber wirklich so wichtig? Gegen Hunger und Schwäche etwas zu tun, war dringender als ein Erinnerungsstück zu hüten und zu retten. Ich hatte erfahren, dass es die Möglichkeit des Tauschens gegen Essbares gab. So zeigte ich also einem der Posten, der mir danach aussah, dass ein Handel möglich sein könnte, das gute Stück. Er bot mir zwei Brote, zwei Pfund Margarine und ein Pfund Zucker an. Woher er diese wertvollen Lebensmittel besorgte, mag der Teufel wissen. Später wurde mir klar: Dieser Tauschhandel und ähnliche Arten des Umgangs mit gelieferten Lebensmitteln trugen für die Masse der Hungrigen vielleicht nicht entscheidend, aber doch mit dazu bei, dass die Suppen so dünn waren - Wassersuppen! Wir sagten: Da schauen mehr Augen (Fettaugen waren gemeint) rein als raus!

Meist fuhren wir bei Nacht. Bei einer langsamen Tagfahrt irgendwo in Polen geschah das einzige Ereignis, das in Erinnerung blieb: Eine Gruppe Jungs, schätzungsweise 13 bis 16jährige, bewarf den Gefangenenzug mit Steinen, und offensichtlich zielten sie auf die stacheldrahtvergitterten Luken. Ich bemühe mich zu erinnern, was wir damals dachten, wie wir reagierten. Es gab keine zornigen Reaktionen. Das Verhalten der polnischen Jungs ist leicht zu erklären. Ich glaube, ich hatte Verständnis für sie.

Wenn der Zug irgendwo auf dem Gütergleis stand, wurde bald die schwere Schiebetür krachend zurückgeschoben, und es gab eine Suppe, so auch Brot und Tee. Für je 10 Mann wurden die abgezählten Brote in den Waggon geworfen. Bei der Filzung waren die Messer zum Brotschneiden zwar kassiert worden, aber wenn kein Bewacher in der Nähe war, gab es doch noch ein paar Messer oder messerähnliche Eisen, die sein Besitzer bei der Filzung irgendwo versteckt hatte, beispielsweise in der erhobenen Faust bei den Leibesvisitationen. Die Plenniwaage war auch während des Transports ein ganz wichtiges Utensil.

An meinem 22. Geburtstag lag ich auf der oberen Etage eines Güterwaggons auf irgendeinem Güterbahnhof und feierte mit den Nebenmännern Geburtstags-Fiesta mit Brot, Margarine und Zucker.

Ich erinnere mich nicht an das Umsteigen bei dem Wechsel von der Normalspur der Eisenbahn auf die russische Breitspur an der polnisch-russischen Grenze. Jeden Lokwechsel oder jedes Ankuppeln sahen wir zwar nicht, jedoch der Stoss und das Ruckeln gingen durch alle Waggons. Es wurde uns ebenso vertraut wie das gleichförmige Rattern des fahrenden Zuges.

Auf weiten Strecken fuhren wir wohl die Route, die ich auf meiner Fahrt in den Kessel von Demjansk südlich des Ilmensees im Januar 1943 und dann im Spätsommer von der Leningradfront wieder zurück erlebt hatte. Ganz gleichgültig war es uns wohl doch nicht, wo wir landen würden. Empörung wurde laut, als ich in meinem jugendlichen Leichtsinn und Übermut einmal sagte: "Wenn sie uns schon nach Osten verfrachten, warum dann nicht gleich nach Sibirien!?" "Bist du verrückt geworden!?" Mir wurde deutlich, dass ein lediger junger Mensch Lebensumstände wie diese hier anders hinnimmt als Männer, auf die zu Hause Frau und Kind warten. Bei dem Wort 'Sibirien' dachte wohl jeder an das Land der Verbannten.

Ein englischer Journalist, der das schier unendliche Gebiet zwischen dem Ural und Wladiwostock in der Zarenzeit bereist hatte, kam zu dem Schluss: Ganz Sibirien ist ein einziges grosses Gefängnis. Und Stalin machte es nicht anders als die Zaren, er betrieb es wohl noch brutaler, wenn man Berichte von der grossen Zahl der Straflager in der UdSSR hört und liest und von den Lebensbedingungen der Strafgefangenen in diesen Lagern und ausserhalb bei der Arbeit, u.a. mit dem Normsystem.

Am Ende dieses langen, stupiden Transports war die fehlende "geistige Nahrung" nicht das Problem, auch nicht so sehr die magere Ernährung, das Hauptproblem war der Mangel an Bewegung!

Nach vier Wochen, am 3. Oktober, hatte die längste Bahnfahrt (zeitlich und nach Kilometern) meines Lebens ein Ende. Dieses genaue Datum kann ich deshalb angeben, weil ich es neben weiteren Daten in ein kleines Holzkästchen aus Birkenholz ritzte, und weil es mir 2,5 Jahre später gelang, bei der vorletzten und allerletzten Filzung, das Kästchen durchzukriegen.

Als die Waggontüren aufgerissen wurden und es "Dawai - aussteigen!" hiess, schauten wir in den russischen Winter, in eine weite, weisse, auf den ersten Blick baumlose Gegend: Es lag etwa 15 bis 20 cm Schnee, und der eher dunkle Himmel hielt noch mehr bereit. Dieser unwirtliche Anblick erinnerte mich an den schon genannten Kessel von Demjansk, in dem meine Frontbewährung für den Besuch der Kriegsschule begann. Dort lag in der Mitte des Winters der Schnee einen halben bis anderthalb Meter hoch. Aber ich war damals im Vollbesitz meiner jugendlichen Kräfte. Hier jedoch hätte sich dem Beobachter ein trauriger Anblick geboten: Es gab keine erhöhte Bahnsteigkante. Schon für einen sportlichen Menschen ist der Sprung von so einem Güterwaggon auf den Erdboden eine ganz gute Leistung, die nicht jeder wagt. Einige schafften es wohl auch, nicht vor Schwäche zusammenzusacken, weil die Gelenke "eingerostet" waren. Viele hatten Mühe, sich wieder hochzurappeln, ich auch.


Wo waren wir gelandet!?

Bald erfuhren wir es: am Rybinsker Staubecken. Der grosse Stausee wird von der Wolga gespeist, ihr Quellgebiet liegt westlich in den Waldaihöhen. Schlimmer noch als die abweisende Landschaft, auf den ersten Blick ohne Baum und Strauch, mit dem schneewolkenbedeckten dunklen Himmel und die Kälte, waren die niedrigen, alten, verrotteten Holzbaracken, in die wir eingewiesen wurden. In diesem Lager hatten schon Gefangene im 1. Weltkrieg gehaust. Bald sprach sich herum, dass wir fehlgeleitet worden waren: Hierher sollten gefangene Waffen-SS-Soldaten verbannt werden. War es das erste Mal, dass ich dem Schicksal dankbar war, nicht bei dieser "Elitetruppe", als die sie sich selbst gesehen hatte und auch so gesehen wurde, gelandet zu sein? Wo wohl mein jüngerer Bruder jetzt war? Er war ja nicht wie ich gehindert oder gebremst worden, als Freiwilliger bei dieser stark weltanschaulich ausgerichteten Truppe zu landen!

Bald nach der Ankunft in diesem miserablen, menschenunwürdigen Rybinsker Lager rumorte es mir im Bauch. Wo war die Latrine? Es gab hier kein Häuschen', nicht einmal eine windige Bretterbude! Im freien Gelände waren Gruben ausgehoben worden, zwei bis drei Meter breit, fünf bis sechs Meter lang, etwa einen Meter tief, darüber lagen Querhölzer und in der Länge darauf Bretter für die Hocke über der offenen Grube. Der Schnee, der kalte Ostwind, die zu leichte Bekleidung für diese Minustemperaturen, die allgemeine Schwäche und das Unwohlsein machten den Gang zur Grube zu einer Tortur, Eile war geboten, sollte es nicht in die Hose gehen. In der Barackentür wurde die Prozedur so vorbereitet - auch die, die es weniger eilig hatten als ich, machten es nicht anders -, dass auf dem Brett über der Grube nur noch "abgeprotzt" werden brauchte. Auch bestand die Gefahr des Abrutschens in die Grube!

Es gab in diesem Lager kein Brennholz für die kleinen Eisenblechöfen in den alten Baracken, wahrscheinlich auch nicht für das Feuer unter dem Suppenkessel. Die einzige Arbeit für die einsatzfähigen Gefangenen in diesen 20 Tagen bestand meines Wissens darin, von der Ufergegend des grossen Stausees Brennholz herbeizuschaffen. Wegen meines schlechten gesundheitlichen Zustandes durfte ich auf der alten Barackenpritsche bleiben. In meiner Erinnerung war ich immer der Meinung gewesen, dass wir am zweiten oder dritten Tag wieder in die Waggons steigen durften für den Weitertransport. Jetzt (Febr. 2001) lese ich die eingeschnitzten Daten, die ich neun Monate später, im Sommer 1946 festhielt: Rybinsk 3. X. - 23. X. 1945. Das sind 20 (!) Tage - und von der Stadt Rybinsk sahen wir nichts.

Weitgehend dösend und mit dem Drängen in den Gedärmen werde ich diese 20 Tage in diesem erbärmlichen Lager auf der Pritsche verbracht haben. Ärztliche Betreuung gab es nicht. In der Erinnerung geblieben ist mir am Ende der 20 Tage, zu Beginn des Weitertransports, die Erbsensuppe mit den noch harten Erbsen. Ich ahnte, dass die Erbsen den Durchfall nicht bremsen würden, aber nichts essen bei der körperlichen Schwäche?

Niemand wusste, wohin es ging. Später wurde klar, dass wir in die Gegend von Tscherepowez befördert worden waren, in eines der Nebenlager von Tscherepowez mit dem Namen Bobrowski. Hinter den Orts- und/oder Lagernamen Bobrowski ritzte ich in meine Holzschachtel "28. X." ein. Waren wir wirklich vier/fünf Tage unterwegs? Nach meiner heutigen Schätzung werden es 250 bis 300 Bahnkilometer gewesen sein. Bobrowski müsste in der Gegend von Wologda und Tscherepowez an der Bahnlinie Leningrad - Kirow liegen. Dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, an den ich am 30. März 2001 eine Anfrage bezüglich der genauen Lage richtete, ist dieser Ort bisher leider nicht bekannt. Auf der Übersichtskarte 22 (s. Abb. S. 27) sind nur die Hauptlager zu finden.

Mein körperlich/gesundheitliches Befinden lässt sich erahnen. Ich musste sofort in die Krankenbaracke. Es war kein Lazarett, vergleichbar mit den Stationen, die ich als Verwundeter erlebt hatte, kaum vergleichbar mit den Feldlazaretten in Kurland, also in der Nähe der Front. Die Krankenbaracke unterschied sich von den normalen Mannschaftsbaracken nur darin, dass die Belegung weniger eng war und dass die Patienten recht und schlecht beaufsichtigt wurden von mitgefangenen Pflegern und einem deutschen Arzt. Es gab weder Strohsackauflagen noch Matratzen, keine Bettwäsche oder gar die übliche Krankenhausbekleidung, keine besondere Diät für Durchfallkranke, auch keine Morgenvisite. Die russische Chefärztin wurde gerufen, wenn es "brannte". Den grossen Barackenraum mit den Doppeletagen-Bettgestellen habe ich noch heute deutlich vor Augen, als wäre es erst vor kurzem gewesen: Ich lag - wie wohl immer im Laufe des Lagerlebens - auf einer oberen Pritsche. Nicht direkt unter mir, sondern schräg vorn, also unten in dem Bettgestell vor dem meinen, lag der Polizeioffizier aus Wismar, der in Rüdersdorf die tägliche "Kartoffelkleiesuppe" nicht mehr runterkriegte. Ich hatte ihn seitdem aus den Augen verloren. Dieser ständige örtliche Wechsel mit immer wieder neuen Gesichtern, der noch bis zum Sommer des nächsten Jahres andauern sollte, verhinderte etwas engere Bekanntschaften. Zwischen den Offizieren blieb ohnehin eine gewisse persönliche Distanz, auch wohl weil wir in der Regel bei der Anrede 'Sie' blieben.

Der Mann aus Wismar war am Ende, er rief den (deutschen) Arzt - natürlich ein Mitgefangener - und sagte: "Doktor, jetzt geben Sie mir noch eine Zigarette und dann will ich sterben." So geschah es denn auch. Der nackte Leichnam wurde hinausgetragen. Die wenigen Habseligkeiten teilten sich die Krankenpfleger. Später erfuhr ich, dass die sterblichen Überreste der abgemagerten Gefangenen zunächst in den Toten-Bunker gebracht und hier gesammelt wurden; es war ja eine Art Eiskeller. Die Sterberate war erheblich. Ein besonderes Arbeitskommando grub ausserhalb des Lagers mit Kreuzhacken und Brecheisen etwa einen Meter tief das Massengrab.

Mein körperlicher und auch seelischer Befund verschlechterte sich. Es gab hier jedenfalls fast normale "Plumpsklos", abgetrennt, gleich neben dem Krankenraum. Jedoch der Gang dorthin war nicht nur ein elender, er war auch deprimierend, weil ohne stabilisierende Anzeichen, und die Sitzungen immer schmerzhafter; es konnte ja höchstens noch Schleim kommen. Nun erging es mir ähnlich wie dem Wismarer Polizeioffizier in Rüdersdorf: Ich löffelte zwar gierig die salzigen dünnen Fischsuppen, aber das Brot blieb auf der Pritschenkante liegen, ich konnte es einfach nicht runterkriegen!

Von meinem Krankenlager aus schaute ich durch das eine der wenigen kleinen Barackenfenster auf einen kleinen Teil des Himmels. Der schöne, rot-orange gefärbte Himmelsausschnitt liess meine Gedanken nach Hause wandern: Wird Mutter es je erfahren, wo und wie ich krepierte? Viele Jahre lang war ich - und andere waren es sicher auch - der Meinung gewesen, dass die vielen, die in der Gefangenschaft starben und verscharrt wurden, nicht registriert, in Listen erfasst wurden. Auch diese Toten würden zur hohen Zahl der vermissten Deutschen im Zweiten Weltkrieg zählen, insgesamt etwa 1,2 Millionen. So war es aber anscheinend doch nicht. Man kann wohl davon ausgehen, dass Listen der in Gefangenschaft Verstorbenen bestehen. [2] Seit der "Wende in Russland" - Anfang der 1990er Jahre - bemühen sich das DRK und der Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge um Klärung dieser Fragen. In einer Mitteilung des Referatsleiters der Abteilung Gräbernachweis und Angehörigenberatung des Volksbundes vom 11. 4. 2001 heisst es, "dass sich in und bei Tscherepowez insgesamt 12 Kriegsgefangenenlager ... , sowie die Lazarette 3739 und 5091 befanden. Dort sollen insgesamt etwa 30.000 Tote begraben sein. ... Stellvertretend für alle in Tscherepowez verstorbenen Kriegsgefangenen haben Russen auf dem Gelände, in dem deutsche Kriegstote des Hospitals 5091 ruhen, 1994 eine kleine Gedenkstätte geschaffen. Diese befindet sich beim Zivilfriedhof der Stadt."[2]

Mein Zustand mit allem, was seit März gewesen war, schien mir aussichtslos, aber ich war ganz gefasst. Erinnerte ich mich an Mutters Spruch in Notfällen: "Wenn die Not am grössten, ist Gottes Hilfe am nächsten." Beten? Ich hatte mich doch nach der Konfirmation von Gott immer mehr entfernt und seitdem nie mehr gebetet. Und ich hatte 1939 ja sogar geprahlt: "Ich lasse mich nur meiner Mutter zuliebe konfirmieren." Hätte ich das Evangelium von Jesus besser, überzeugender vermittelt bekommen, wäre mir vielleicht in dieser jämmerlich elenden Verfassung mit schwindender Hoffnung auf Gesundung das Gleichnis vom verlorenen Sohn eingefallen, da hätte ich mich wohl "zurückgemeldet"! So aber sah ich das Beten als etwas Schuftiges. Ich wollte kein Schuft sein. Heute denke ich, dass ich überhaupt wieder an Gott und Glauben dachte, war schon so etwas wie ein Gebet.

Nach der dritten oder vierten Nacht, als die Krise mit hohem Fieber einsetzte, (es stieg auf 40,4° C), liessen die mitgefangenen Krankenbetreuer die russische Chefärztin kommen. Man hatte mich von der oberen Pritsche auf eine untere gelegt. Die Russin diagnostizierte - soweit ich es mit meinem zum Zerreissen heissen Kopf mitbekam - ganz schnell: "Ne Enterie" (oder Enteritis?), Doktor, Disenteria!" Das heisst: es ist kein einfacher Durchfall, es ist die Ruhr. Der rettende Engel verordnete drei kleine Päckchen (zusammengefaltetes Papier) mit einem weissen Pulver, dreimal am Tag, für drei Tage. Schon nach 24 Stunden merkte ich, dass es bergauf ging. Ich konnte wieder essen und wurde bereits nach wenigen Tagen aus der Krankenbaracke entlassen. Das ganze Elend dieser Wochen war bestimmend für den weiteren Verlauf meiner Gefangenschaft (und vielen anderen erging es ähnlich): die wochenlange Schwächung durch die Ruhr und die anhaltend mangelhafte Verpflegung verhinderten die Erholung und Kräftigung. Was wir damals nicht wussten, war die Tatsache, dass es seitens unserer Gewahrsamsmacht keine Absicht oder Gleichgültigkeit oder kein organisatorisches Unvermögen war, uns ausreichend zu ernähren, die etwa 180 Millionen Menschen der riesigen Sowjetunion lebten auch nur sehr dürftig: Amerika lieferte Lebensmittel! Wir wunderten uns eine Zeitlang im Jahre 1946 über die amerikanische Kakaobutter, die wir - nur die Offiziere (!) - in kleinen Portionen (20 g) gelegentlich zum Brot "auf die Hand" bekamen. Man wollte ja unsere Arbeitskraft. Insgesamt war die produktive Arbeitsleistung dieser Millionen Gefangenen ein Kapital - auch abzüglich der Kosten für "Unterkunft, Verpflegung und Krankenbetreuung" -, das zu Buche schlagen dürfte bei der Aufrechnung der Kriegsreparationen, die dem Besiegten in der Regel auferlegt werden. Das dürfte in der Folge auch dieses Berichts deutlich werden.

Die Wohnbaracke für die nun folgenden Wintermonate November/Dezember '45 und Januar '46 habe ich als dunklen Raum mit der Barackentür an einer Stirnseite in Erinnerung. Die wenigen schmalen Fenster an den Seitenwänden zwischen den Bettgestellen (ich lag auch hier oben) mit den harten Brettern ohne Auflagen, ausser unseren eigenen wenigen Klamotten, spendeten nur dürftiges Tageslicht. Wenn die Tür geöffnet wurde, sah man etwas mehr. Aber die Minusgrade liessen das nicht lange zu. Holz zum Heizen war knapp. Bis Ende 1947 war es so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Arbeitskommandos von draussen (ausserhalb des Lagers) Brennholz mitbrachten für die kleinen Eisenblechöfen. Die kürzer werdenden Tage im November und dann im Dezember trugen mit dazu bei, dass mir diese Monate in dunkler Erinnerung geblieben sind - real und stimmungsmässig. Wenn es draussen früh dunkelte und Nacht wurde, war das trübe Licht einer einzigen Öllampe eine gewisse Orientierung in dem relativ grossen Raum mit den vielen aufgestockten Pritschen zu beiden Seiten des etwa zwei bis drei Meter breiten Mittelganges mit den Stützpfählen für das flache Satteldach.

Einen stimmungs-mässigen Lichtblick gab es für mich am 14.Dezember (1945): Die ersten Karten für ein Lebenszeichen nach Haus für je 10 Mann eine(!) erhielten wir! Es musste also verlost werden: Wer wird der Glückliche sein? Ich war es in meiner Zehnergruppe.

Die eine Hälfte der Doppelkarte war für den Absender gedacht, die andere für die Rückantwort. Mutters Antwortkarte kam erst ein Jahr später bei mir an. Wir wurden kurz instruiert, was geschrieben werden durfte und was die Zensur nicht passieren würde. Abfälliges über die Sowjetunion zu schreiben, war also untersagt. Wie weit durfte man die Wahrheit über das eigene Befinden berichten? Schädigte man mit dem Hunger, mit der Erkrankung an der Ruhr, mit den harten Pritschen das Ansehen der Sowjetunion? Die volle Wahrheit über mein Befinden hätte ich sicher ohnehin nicht geschrieben, um das Bangen und Sorgen zu Hause nicht noch zu steigern.

Diese erste Karte schreibe ich hier wörtlich ab:

14. 12. 1945 Meine liebe Mutter! Diesen Tag werde ich in meinem Leben als besonderen Freudentag festhalten: Ich darf mit dieser Karte mit meinen Gedanken und allen meinen Sinnen nach langer Zeit mal wieder bei Dir zu Hause sein. Das soll nicht heissen, dass meine Gedanken nicht täglich und stündlich daheim weilen und Fragen, Fragen stellen - aber heute - schreiben dürfen und in ein paar Wochen auf Antwort warten dürfen, das ist ein ganz grosses Glück, wofür ich meinem Schicksal ganz besonders dankbar bin.

(Ich ahnte nicht, dass zu den bereits fast 10 Monaten ohne eine Nachricht von zu Hause weitere gut 12 Monate hinzu kommen würden). Mein liebes Mütterlein, mein Gebet an Deinen Gott, zu dem Du auch mir, Deinen Kindern das Beten gelernt hast, enthält immer wieder die eine grosse Bitte, dass er uns gesund erhalten möge und besonders Dich, liebe Mutter, damit wir uns ein schönes Leben gestalten können. Der liebe Gott wird unsere Gebete erhören, daran glaube ich - und wenn er uns so lange prüft, dann werden wir später einmal den Grund einsehen. - Ich lebe und bin gesund, liebe Mutter, und hoffe somit den harten russischen Winter gut zu überstehen. Aber wie geht es Euch??? Ernst, Arthur, Elfriede? Wie allen anderen, die mir nahe stehen? Wie sieht es überhaupt in der Heimat aus? Dir und allen Lieben, vor allem auch Henny, die besten, vom Herzen kommenden Grüsse und Wünsche. - Auf ein gesundes Wiedersehen im kommenden neuen Jahr. Dein Willi

Auf dieser ersten Karte steht also nichts von der glücklich überstandenen schweren Ruhr, von der Abmagerung und Schwäche und von der dürftigen Verpflegung.

Heute lese ich in dem Buch "Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, 1941-1956 - Kriegsgefangenenpolitik, Lageralltag und Erinnerung" (s. Literaturhinweise), den Wortlaut der Verfügung über "Post und Paketverkehr" u.a. folgendes: " ... Es waren nur Nachrichten über die Gesundheit, die allgemeinen Lebensbedingen oder über die eigene politische Einstellung erlaubt. ... Karten 'antisowjetischen' oder 'profaschistischen', mitunter einfach negativen Inhalts, Karten mit Mitteilungen über andere Kriegsgefangene und Verstorbene oder Karten, die in andere Länder adressiert waren, wurden als "verleumderisch "oder als "Agententätigkeit" klassifiziert und zurückgehalten. Die Zensur wurde 1945 an den Zensurstellen der Roten Armee vorbei der Abteilung "V" des NKGB (NKWD) übertragen".

Weihnachten 1945 - das dunkelste meines Lebens.

Keine einzige Kerze erhellte ein wenig mehr als die trübe Ölfunzel das dunkle Innen der Baracke. Dass ich die Ruhr überlebt hatte, war ein Lichtblick - und ich hatte das Glück gehabt, nach Hause schreiben zu dürfen! Die Gedanken an zu Hause waren - meine ich - dennoch nicht sentimental-traurig: Der Krieg war vorbei, wenn auch mit einem anderen Ende als wir geglaubt hatten. 'Wenn es eine Gerechtigkeit gibt, müssen wir diesen Krieg gewinnen', hatte ich mal gesagt. Hatte das "Schicksal" nun ungerecht entschieden? Ich glaube nicht, dass ich Weihnachten 1945 diese Frage stellte. Es gab keine längeren und tieferen Gespräche, nur kurze Erinnerungen mit dem Nachbarn auf der anderen Pritsche an andere Weihnachten. Jeder "feierte" Weihnachten in Gedanken auf seine Weise. Zu Hause würden wieder Kerzen brennen, daran zweifelte ich nicht. Wie hätten wir reagiert, wenn ein mitgefangener Feldgeistlicher, ein Theologe oder ein "priesterlicher Mensch" unter uns gewesen wäre und den Mut und das Können gehabt hätte, vielleicht die Weihnachtsgeschichte zu erzählen und dazu etwas von der Bedeutung des Geschehens bei und in Bethlehem im jüdischen Land vor fast 2000 Jahren für unser Heute hier als Gefangene? "Christ der Retter ist da ..."? "Stille Nacht, heilige Nacht, ..." hatte bei den Kriegsweihnachten noch immer harte, auch gottferne Männerherzen gerührt, wenn auch vielleicht mehr sentimental als gottgläubig, und dann hatten alkoholische Getränke für "Stimmung" gesorgt. Zumindest wir Jüngeren hatten uns von dem "Retter" der Bibel in den vergangenen Jahren immer weiter entfernt. Wären wir in dieser jetzigen Lage empfänglicher gewesen für das Angebot Gottes?

Für die Russen hier schien dieses Fest nicht existent zu sein, abgesehen davon, dass in Russland erst am 6. Januar Weihnachten ist. Andere deutsche Kriegsgefangene in den 4000 Lagern der Sowjetunion erlebten Weihnachten 1945 anders als wir in Brobowski. Es gibt einen Gefangenenbericht, der davon zeugt, dass dort die Bewacher durchaus das deutsche Weihnachten nicht nur tolerierten, sondern es wollten. Einem Bericht in "Der Heimkehrer" (vom 5. Dez. 1998) zu Folge liess die russische Lagerleitung (Dez. 1945) fragen: "Wer hat eine Bibel?" Zögernd hatten sich ein Arzt und der Schreiber des Berichts gemeldet, der auch als Soldat im Krieg und an der Front "die Bibel immer dabei" hatte. Das Zögern gründete auf Misstrauen, weil die beiden erlebt hatten, dass sie ihre Bibel neben allem anderen Schriftlichen, das die Gefangenen abgeben mussten, auch auf den Haufen Papiere zu werfen hatten. Da hatte der Schreiber des Berichts sich geweigert, weiterzugehen - und er setzte sich schliesslich durch: er durfte seine Bibel wieder aufheben. Weihnachten '45, also in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager, erhielten sie den Befehl, eine Weihnachtsfeier zu veranstalten - mit der Weihnachtsgeschichte der Bibel. - Wie immer und überall sind es die Menschen vor Ort, die letztlich den "Ton angeben".

Ich glaube nicht, dass wir oder dass ich für mich gedanklich beim Jahreswechsel 1945/46 dieses Jahr 1945 ähnlich Revue passieren liess, wie wir es in der Regel seit 50 Jahren in geordneten Bahnen bei relativem Wohlstand zu tun pflegen. Was war das für ein Jahr!?! Am Beginn standen die Sowjets in Ostpreussen und die Westalliierten an den Westgrenzen des Grossdeutschen Reiches. Unsere Heeres-Panzerjäger-Abteilung musste nach der vierten Kurlandschlacht die letzten schweren 8,8 cm Pak abgeben. Wir wurden Panzergrenadiere - Infanteristen. Den unverhältnismässig höchsten Anteil an Verlusten trägt immer die Infanterie. Es war eine fast logische Folge, dass ich am 19. März schwerverwundet wurde. Die nächsten 'Tiefschläge' des Jahres waren: der Einmarsch der Sowjets, die bedingungslose Kapitulation, der Marsch und der Transport in die sowjetische Gefangenschaft, die Ruhr! Zwei Lichtblicke gab es: der schöne Mai oft in Gesellschaft junger Menschen - und Anfang Dezember das Glück bei der Verlosung der ersten Karte für eine Nachricht nach Haus.

Erst in diesen Wochen Ende Januar/Anfang Februar 1946 war zu Hause - was ich dort in Russland natürlich nicht erfuhr - mein Brief vom 25. Mai 1945 aus Graal-Müritz, also sieben, acht Monate später als erwartet, endlich bei meiner Mutter angekommen, aber immerhin ein halbes Jahr früher als die Karte, die ich Anfang Dezember 1945 hatte schreiben dürfen.

Aus den mir vorliegenden Briefen von Marianne Brinkmann an meine Mutter ist der Irrweg des Briefes vom Mai '45 zu ersehen: Am 21. 7. 45 hatte sie Gelegenheit, den Brief einem "Patienten von unserem Lazarett" mitzugeben, der "versuchen wollte, sich nach Sylt durchzuschlagen." Anfang Januar 1946 kam der Brief wieder zur Absenderin zurück: "Der Patient, der nach Sylt fahren wollte, hatte es sich anders uberlegt," schreibt Marianna B. in dem nächsten Brief "Graal, d. 14. 1. 46." Es hatte sich dann eine neue Gelegenheit geboten, den Brief (mit ihrem Begleitbrief) einem Patienten mitzugeben, "der in Rendsburg zu Hause ist. Dieser wurde auf der Reise wieder krank u. liegt nun schon lange wieder in einem Lazarett. Dabei muss er die Briefe an Sie, sehr verehrte Frau Krück, völlig vergessen haben."

Inzwischen war der Postverkehr wieder angelaufen, und Marianne B. schickte ihn per Post nach Erfde in Schleswig-Holstein, also von der sowjetischen in die englische Zone. Sie schreibt in ihrem Begleitbrief u. a. auch: "... In diesen langen Monaten habe ich leider nicht ein Wörtchen über Ihren Sohn in Erfahrung bringen können." Sie vermutete mich in Berlin.

Brennholz für die Küche

Im Laufe dieser Wochen bis Ende Januar 1946 erholte ich mich wieder einigermassen und wurde eingeteilt zum Brennholzholen aus dem weiten, unter einer dicken Schneedecke liegende Gelände mit niedrigem Birkenwuchs in etwa 10 Kilometern Entfernung. Im Sommer war es sicher ein ausgedehntes Feuchtgebiet. Alte hohe Birken mit einem dickeren Stamm erinnere ich nicht. Ein anderes Kommando hatte das Brennholz geschlagen und zu zwei bis vier Meter Länge zugesägt für den Abtransport mit Schlitten. Wir brauchten draussen also nur aufzuladen. Je sechs Mann bildeten eine Schlittengruppe. Die einfachen flachen Holzschlitten waren etwa einen Meter breit und zwei Meter lang mit seitlich je zwei oder drei senkrecht stehenden Stützen. Eisenkufen hatten sie nicht, waren auch nicht erforderlich. Das Tau zum Ziehen war mit drei Rundhölzern versehen. Auf jeder Seite vom Tau konnten also drei Mann ziehen.

Während der Hintour zogen wir den Schlitten an den Rundhölzern mit der Hand. Als wir den Schlitten beladen hatten mit meist im Durchschnitt armdicken Birkenstämmchen, brauchten wir mehr Kraft und zogen wie Ochsen im Joch - das Rundholz vor Bauch oder Brust. "Fronarbeit", ging es mir durch den Kopf. - Wir schafften den Weg hin und zurück gerade so bei Tageslicht. Bei der Rückkehr ins Lager wurde an der Küchenbaracke schon gerufen: "Beeilt euch, das Feuer geht aus, die Suppe wird kalt!" Ich wunderte mich, dass mit frisch geschlagenem Holz geheizt werden konnte. Später im Waldlager zeigte die Erfahrung, dass frisches Birkenholz gut als Brennholz geeignet ist.

Sonderkommando Wologda

"Wologda: 3. II. - 15. III. 46" ritzte ich in mein kleines hölzernes 'Tagebuch' ein. Nach welchen Gesichtspunkten für das kleine Kommando ausgesucht wurde, weiss ich nicht. Beim Eispickeln an unserem neuen Arbeitsort arbeitete einmal an einem kalten Februartag neben mir ein Hauptmann Graf von Westfalen. Ihm lief die Nase genauso wie mir. Ob alle Teilnehmer dieses Kommandos Offiziere waren, weiss ich ebenfalls nicht, vermutlich ja. Wir waren im Eisenbahn-Ausbesserungswerk Wologda gelandet. Hier gab es keine Zählappelle, die kleine Gruppe war schnell gezählt, der Wehrmachtdienstgrad wurde ohnehin nicht mitgenannt. Wir erfuhren also nur im Gespräch mit dem Nebenmann, wo er zu Hause war, was er mal dargestellt hatte. In der Regel spielten Dienstrang und Kriegseinsatz kaum eine Rolle bei unseren eher knappen Gesprächen untereinander. An der Bekleidung war der Dienstrang längst nicht mehr zu erkennen.

Wir hatten inzwischen Winterbekleidung empfangen: einen warmen Schaffellmantel, eine gesteppte Wattehose und -jacke und Walenki, die russischen Filzstiefel - alles nicht neu, aber noch tragbar. Die Filzstiefel hatten keine Ledersohlen wie unsere, die wir im Winterkrieg getragen hatten. Bei den ständigen Minustemperaturen waren wegen der trockenen Kälte auch keine Ledersohlen erforderlich, und kalte Füsse in den Walenkis erinnere ich eigentlich nicht. - Für die Russen waren wir nun als Kriegsgefangene zu erkennen: Ein Stück Leinenstoff mussten wir mit den kyrillischen Anfangsbuchstaben für Wojna Plenni beschriften: B/n - und am linken Ärmel (Oberarm) von Mantel oder/und Jacke annähen.

Unser Kommando hatte die Aufgabe, das Werk - oder die Fabrik - von der Schnee- und Eislast frei zu halten. Die grossen flachen Fabrikdächer mussten von den Schneemassen freigeschaufelt werden, damit sie von der schweren Last nicht einbrachen; auch die Wege auf dem Fabrikgelände waren schneefrei zu halten.

Räder der Loks und Tender standen manchmal trotz der Schienen bis 15 cm in Eis, weil man das Wasser einfach abgelassen hatte, es gefror natürlich sofort. Mit einer Brechstange pickelten wir die Räder eisfrei.

Wir waren innerhalb der Fabrikeinfriedigung in einem ausrangierten Eisenbahn-Personenwaggon untergekommen. War es gar ein alter Wagen der Transsibirischen Bahn? Immer vier Mann wohnten in einem Abteil. Holz und auch Kohlen waren ausreichend vorhanden. Im Vergleich mit dem grossen Lager war das hier fast ein "Winterurlaub": keine Stacheldrahtzäune und Wachtürme, keine Posten mit Gewehr, Maschinenkarabinern oder -pistolen. Unser Aufseher oder Bewacher, der Natschalnik, ein kleiner, älterer Russe, war ein netter Mensch. Jeweils am halben Vor- und Nachmittag rief er: "Pausa Kuritj!" Das sollte heissen: "Zigarettenpause!" Ich blieb aber auch in der Gefangenschaft Nichtraucher.

"Winterurlaub"!? Seit einem Jahr hatte ich keine Nachricht von zu Hause, es herrschte völlige Ungewissheit über die Länge der Gefangenschaft, ich war geschwächt durch Verwundung, Ruhr, lange Gefangenenmärsche und mangelhafte Ernährung, und seit Oktober '45 zehrte die Kälte an den Kräften. Nein, Winterurlaub waren auch diese sechs Wochen im Eisenbahnwerk Wologda nicht.

Im Februar war es mal ein paar Tage extrem kalt: minus 41° C! Da machte uns die Kälte trotz der Schaffellmäntel, der wattierten Hosen und der Walenkis besonders zu schaffen, obgleich wir bei diesen Minusgraden nur im Wechsel je eine halbe Stunde zu pickeln oder zu schaufeln brauchten. Dann wärmten wir uns in der nächsten halben Stunde am Schmiedefeuer einer Fabrikhalle. Die Maschinen, die dort standen, waren zwar älterer Bauart, aber deutsche KRUPP-Fabrikate.

In einer dieser Halbstundenpausen hatte ich einen kurzen, nicht so angenehmen Wortwechsel mit einem jugendlichen Fabrikarbeiter. Er stand neben mir und fragte mich, an welcher Front ich gewesen sei. Ich nannte wahrheitsgemäss auch die Leningradfront. Da sagte er aufgebracht: "Tam moi Brat kaputt!" - "Da ist mein Bruder gefallen!" Beschwichtigend entgegnete ich nicht so ganz der Wahrheit entsprechend: "Da, da, moi Brat tosche." ("Ja, ja, mein Bruder auch"). Wenn man den Begriff "Bruder" im Sinne der Bibel gebraucht, war es sogar wahr: Meine damalige Pak-Bedienung flog auf einem Munifahrzeug infolge eines Granatvolltreffers in die Luft. Alle sechs (mit dem Fahrer) wurden getötet, meist zerfetzt. Ich entging dem frühen Soldatentod nur, weil ich wegen starker Erkältung nicht mit "nach vorn" brauchte. - Der Jugendliche gab sich mit meiner Antwort zufrieden; die Sprachschwierigkeiten liessen auch kein weiteres Gespräch zu.

Streik

Am 1. März (1946) führte die Sowjetunion wieder den Achtstunden-Arbeitstag ein; in den Kriegsjahren und danach galt der 12-Stunden-Arbeitstag. Wir aber mussten uns die täglichen acht Stunden Arbeit - statt 12 - erstreiken. Als um 17 Uhr die Fabriksirene "Feierabend" heulte, verliessen die Russen eiligst die Fabrik, als hätten sie schon hinter den Türen in den Startlöchern gestanden. Auch wir schulterten die Schaufel, aber da rief unser Natschalnik: "Chalt! Chalt! Dawai rabotatj! Rabotatj!" ("Halt, halt, los arbeiten, arbeiten!"), und er erklärte uns, dass der rote Arbeiter den Achtstundentag erkämpft habe, für die deutschen Kriegsgefangenen gelte weiter der Zwölfstundenarbeitstag. Das nahmen wir nicht hin und "bauten Arbeiterdenkmäler", d. h. wir stützten uns stehend auf den Schaufelstiel, etwa wie beim Reichsarbeitsdienst in der "Hab-Acht-Stellung". Dann sang einer und alle stimmten mit ein: "Unrasiert und fern der Heimat, ..." Bei Liedern und bei Kindern wurden die Russen meist milde gestimmt. Unser Aufseher sagte, er werde zur Fabrikleitung gehen, eilte los, liess uns in der Dunkelheit stehen, und wir sangen weiter " ... und der Bart wird immer länger, immer länger wird der Bart" - und dann wieder von vorn, bis unser Bewacher zurückkam: "Dawai, nach Chause!"

"Nach Haus"? So schnell würde der Tag der Heimreise nicht kommen, da hätte man sich unseren Marsch und die Transporte vom Lazarett Graal-Müritz an der Mecklenburgischen Ostseeküste von Juni 1945 an bis hierher sparen können. Der Krieg war doch schon bald ein Jahr vorbei! Nein, Stalin brauchte Millionen billige Arbeitskräfte als Reparationsleistung für den Wiederaufbau. Wir leisteten ein gehöriges Stück Wiedergutmachung, die Masse - zu der ich zählte - bis 1948/49, andere noch bis 1954. Aber mein Optimismus - wie an der Front - war wieder da, ich glaubte an meine Heimkehr - irgendwann.

Eine Arbeitsverweigerung hatten wir übrigens schon vorher einmal gewagt: Uns war bei Erfüllung der Norm - wie unser Aufseher die Norm hier berechnete, ist mir allerdings schleierhaft - zusätzlich zur Mittagssuppe vom Werk eine "Kascha" (Brei) versprochen worden. Als es mit der Kascha mal nicht klappte, blieben wir nach der Suppe in unserem Waggon: Streik! Nach einer halben Stunde hatten wir die Kascha.

Einmal konnte ich mir eine "Fleischbrühe" extra kochen in meiner Blechbüchse auf dem kleinen Eisenblechofen in unserem Quartier. Eine Krähe suchte Futter in einem Gerümpelhaufen. Mit einem Stück Holz brachte ich den lahmen Vogel zur Strecke, und wie Geflügel geschlachtet und gerupft wird, wusste ich ja - auch etwas Salz konnte ich besorgen.

Dieser Schippeinsatz im Eisenbahnwerk in Wologda hätte gern länger dauern dürfen als nur bis Mitte März, aber man rechnete wohl nicht mehr mit viel Schnee und Frost. Am Sonnabend, dem 16. März, fuhren wir, natürlich immer mit bewaffneter Begleitung, ins Hauptlager Tscherepowez. Das Transportmittel, Eisenbahn oder LKW, erinnere ich nicht mehr. "Tscherepowez: 19. III. - 3. VII." schnitzte ich in meine hölzerne Gedächtnishilfe ein. Einen regulären Arbeitseinsatz ausserhalb des Lagers gab es für mich in Tscherepowez nicht, wohl jedoch in einem Nebenlager, von dem ich berichten werde. Innendienst, Brennholz holen wird die Beschäftigung gewesen sein. Ich hatte, sicher nicht ich allein, viel Zeit für geistige Beschäftigungen.

In diesem grossen Hauptlager prangten an den Barackenwänden oder zwischen Masten grosse Transparente mit Sprüchen wie: Die Hitlers kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt bestehen, Joseph Stalin, der ruhmreiche Held des grossen vaterländischen Krieges - oder: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Hier war die Lager-Antifa aktiv. "Antifa" ist die Kurzbezeichnung für antifaschistische Aktivisten, Gefangene verschiedener Herkunft und Gruppierungen: Widerständler gegen das Hitler-Regime, Alt- und Neukommunisten, auch Angehörige des "Nationalkomitees Freies Deutschland". Ob auch Mitglieder vom "Bund deutscher Offiziere" in den normalen Lagern im Rahmen der Antifa tätig waren, also nicht nur in den Offizierslagern, weiss ich nicht. Im Kurlandkessel - ebenso wie an anderen Fronten im Osten - waren die zuletzt genannten beiden Gruppen wegen ihrer Aktionen (Hetze über Lautsprecher und mit Flugblättern) als Vaterlandsverräter gebrandmarkt worden. Das Misstrauen gegenüber den Antifa-Leuten war gross, zumal sie bei der Verpflegung und Bekleidung begünstigt wurden, und wir bei dem einen oder anderen annehmen mussten, die antifaschistische Gesinnung sei der Vorteile wegen da. Uns positiv mit diesen Widerständlern gegen Hitler zu beschäftigen, waren wir in der Masse auch nach der Niederlage a priori nicht reif. Erst später begann ich mich für deren Beweggründe zum Widerstand gegen das Hitlerregime zu interessieren, ich wollte mehr wissen über die Entstehung und Entwicklung dieser antifaschistischen Gruppen.

Das Lesematerial, die Broschüren, Zeitungen - wie die Prawda (= Wahrheit) und Iswestia - mit abgedruckten Stalin- und Lenin-Reden interessierten mich durchaus. Diese Reden waren auch in deutscher Sprache vorhanden. Bald kam eine deutsche Zeitung, das Parteiorgan der KPD "Neues Deutschland", aus Berlin hinzu. - Wir lasen und hörten von der Vereinigung der SPD und KPD in der Sowjetzone am 26. April 1946. Dass diese Vereinigung unter massivem Druck auf die SPD und mit z. T. starker Unterstützung der sowjetischen Militäradministration erfolgte, erfuhren wir damals nicht. Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl waren jetzt die massgeblichen Namen in der Sowjetzone. - Wir hörten oder lasen vom Nürnberger Kriegsverbrecherprozess mit den NS-Grössen von Reichsmarschall Hermann Göring bis hin zu den Grossadmiralen Dönitz und Raeder. Hatte es so einen Prozess auch nach dem Ersten Weltkrieg gegeben? Aber so besonders berührte uns dieser Prozess nicht, wir büssten ja schon für den Angriffskrieg, den diese Herren befohlen und den wir willig mitgemacht hatten. - Ich erinnere mich nicht, dass das, was später mit dem Begriff 'Holocaust' Deutschland und die Deutschen fast in aller Welt anprangerte, eine besondere Rolle spielte, auch nicht, dass wir die bekannten Bilder sahen, von den mehr als abgemagerten KZ-Häftlingen bei der Befreiung durch unsere ehemaligen Feinde. Wir hätten die unglaubliche Zahl der vergasten und gequälten Juden und anderer eher als Zweckpropaganda abgetan. Waren wir nicht selbst auf dem Weg dorthin, wenn es mit den Wassersuppen und dem wenigen und dazu noch klitschigem Brot so weiterging?! Wir hörten oder lasen auch nichts von der bekannten Churchill-Rede, in der er von dem "eisernen Vorhang" gesprochen hatte, der mitten durch Europa niedergegangen sei. Ob wir von der Gründung der Vereinten Nationen, deren Ziel und Aufgaben vernahmen, erinnere ich auch nicht.

Aber es gab hier ein Buch, einen Roman in deutscher Übersetzung zu lesen, der mich fesselte: Maxim Gorkis "Die Mutter". Dieser nicht nur sozial-kritische, sondern revolutionär-kritische Roman, ist seit seinem Erscheinen (zuerst nicht in russischer, sondern in englischer Sprache in England 1905/06) "gewissermassen klassisch geworden", wie es auf der Innenseite des Schutzumschlags der deutschen Ausgabe von 1971 heisst. Er bereitete bei mir stark den Boden vor für ein Denken, bei dem nicht mehr die nationale Grösse Deutschlands im Vordergrund steht, sondern das Recht eines jeden Menschen in allen Völkern auf freie Entfaltung und auf Würde. Ich hatte inzwischen gelesen, dass Karl Marx davon ausgegangen war, der Sozialismus/Kommunismus werde sich zuerst in den Ländern mit der am weitesten entwickelten Industrie durchsetzen, also in den Ländern mit den vielen rechtlosen Industriearbeitern (England, Deutschland) und nicht im agrarisch geprägten Russland. Ich begriff nach der Lektüre "Die Mutter", dass das Proletariat in Russland eher noch schlimmer dran war bis zur Revolution 1917 als in den westlichen Industriestaaten und dass die grossen Agrarflächen in der Zarenzeit nicht in der Hand freier Bauern, sondern der Grossgrundbesitzer waren. Der Landbesitz des Adels, besonders der russischen Fürsten und Grossfürsten, war enorm. So war ich wenig verwundert, dass in der Sowjetzone in Deutschland bereits im Herbst 1945 unter dem Motto "Junkerland in Bauernhand" die Enteignung der Grossgrundbesitzer begonnen hatte. Die Rede des Vorsitzenden der kommunistischen Partei, Wilhelm Pieck, am 2. September 1945 war das Startsignal gewesen. Alle Betriebe über 100 ha wurden in der Folge entschädigungslos enteignet (30% der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Sowjetzone). Die machen es radikaler als Hitler, dachte ich in der Erinnerung an unseren Nachbarn in Erfde, Peter Daniel, der in den 30er Jahren - wie viele andere - in Mecklenburg einen Neusiedlerhof übernahm.

Zwischen diesen beiden Daten für Tscherepowez liegt ein etwa dreiwöchiger (29. April bis 22. Mai) Arbeitseinsatz im Nebenlager Schalome. Ende April 1946 sollte für mich und für etliche andere wieder der Arbeitseinsatz beginnen. Wir wurden per Eisenbahn in das Lager Schalome befördert. "Schalome: 29. IV. - 22. V." ritzte ich als Gedächtnisstütze in meine hölzerne Zierschachtel ein. Es war kein besonderes Kommando, Schalome sollte eigentlich für mich der erste produktive Arbeitseinsatz werden; das Schneeschippen und Eispickeln in Wologda zählt wohl mehr als Dienstleistung.

Wahrscheinlich war ich bei der "Kommissionierung", so nannten wir die Begutachtung für den Arbeitseinsatz nach den Kategorien I, II und III/6, in die Kategorie II eingestuft worden. Wer zur Kategorie I und II zählte, hatte nach dem Gutachten der Ärztin eine körperliche Verfassung, die für alle Arbeiten taugte, auch für die schwersten. Bei der Arbeitsgruppe III war die "Sechs" gleich angehängt und bedeutete "Arbeitsgruppe drei - sechs Stunden Arbeit" (III/6: sprich "Drei-sechser"). Bei allen Kommissionierungen erlebte ich nie einen Arzt, es war immer eine Ärztin. Wie bei der Musterung stellten wir uns splitternackt in die Reihe, und im Beisein des Lagerkommandanten und eines Schreibers oder einer Schreiberin - also der Kommission - entschied die Ärztin über unsere Einstufung. Sie musterte uns von oben bis unten, sagte dann meistens "dwa" (= zwei) oder auch "odin" (= eins) oder eben "tri-schestj" (= drei/sechs). Mindestens im letzteren Fall musste der Gefangene sich umdrehen, und nach einem gekonnten Griff in die Muskelpartie des Gesässes kam die Einstufung. War das alles zu schlaff oder zu mager - wurde man "dreisechser" oder auch nur OK ("oka"). Die genaue Bezeichnung für "oka" habe ich nie erfahren. Wir sagten: "ohne Kraft", nur für leichte Arbeiten im Lager fähig oder gar reif für das Krankenrevier. Die letzte Kategorie war die Dystrophie. "Dystrophiker" waren völlig ausgemergelt, nur noch Haut und Knochen und lagen in der Krankenbaracke. Sie hatten nur den einen Vorteil, dass sie vorzeitig heimtransportiert wurden. Bereits am 22. Juli 1946 trafen die ersten Kriegsheimkehrer aus der Sowjetunion im Lager Gronenfelde bei Frankfurt/Oder ein. Es waren 3000 Arbeitsunfähige; die Gesamtzahl der Kriegsgefangenen in sowjetischen Lagern betrug 3 Millionen. "Es herrscht grosse Freude in Deutschland über die ersten Kriegsheimkehrer aus sowjetischer Gefangenschaft", lese ich in meinem Jahrhundertbuch. "Im Lager Gronenfelde in der Nähe von Frankfurt/Oder treffen rd. 3000 von den Sowjets entlassene Kriegsgefangene ein. Insgesamt befinden sich noch etwa 3 Millionen ehemalige Wehrmachtsangehörige in sowjetischen Lagern. Die genaue Zahl ist unbekannt. Viele Gefangene werden zu Zwangsarbeit herangezogen." Dieser letzte Satz ist unkorrekt, er müsste lauten: "Nur Kranke, Geschwächte und Offiziere vom Major an aufwärts werden nicht zur Zwangsarbeit herangezogen." - Alle bis Ende 1947 aus der Sowjetunion entlassenen Kriegsgefangenen waren krank bzw. körperlich heruntergekommen. Hinter fast drei Millionen Männern im besten Lebensalter steckt eine enorme Arbeits- und Produktivkraft.

Der Orts- oder Lagername Schalome ist ebenfalls nicht in der Karte mit den 'Lagerverwaltungen der Nordregion' zu finden. Es muss ein Aussenlager von Tscherepowez oder Wologda gewesen sein, an der Eisenbahnstrecke Leningrad (St. Petersburg) - Kirow (Kirow ist etwa 2/3 der Strecke von Leningrad bis zum Ural).

Nun war ich Gleisarbeiter. Der Bahndamm erinnerte mich an das ehemalige Bahngleis durch Katenmoor zwischen Erfde und Christiansholm. Die Strecke hier (in Russland) war allerdings nicht ein-, sondern zweigleisig. - Aber schon nach wenigen Tagen erkrankte ich und musste in die Lazarettbaracke des kleinen Lagers. War es die allgemeine Schwäche infolge der Arbeit mit der Kreuzhacke und der Schaufel auf dem Bahndamm - bei mangelhafter Verpflegung? Starke Erkältung? Ich habe vergessen, woran ich erkrankte, sehr wohl aber erinnere ich mich, dass mir die Haare geschoren wurden - aus hygienischen Gründen, versteht sich. Eine zweite Radikalschur hat es nicht gegeben im Laufe der Gefangenschaft. Etliche Wochen später konnte ich schon wieder das Haar kämmen, ich meine, jetzt nicht mehr mit Scheitel, sondern der Einfachheit wegen glatt zurück.

Wie in der Lazarettbaracke bei der Ruhr lag ich auf der oberen Pritsche. Der Kurzgeschorene unter mir besass Papier und Bleistift und beschäftigte sich mit der russischen Sprache, Schrift und Grammatik. Papier war ein rarer Artikel, man kam in den wertvollen Besitz nur durch besondere Umstände. Den Bleistift hütete man wie einen Schatz. Ich sah bei ihm die Sechser-Deklinations-Reihen, nicht vier Fälle wie bei unseren Substantiven, und Artikel gibt es nicht. An den Endungen der Substantive erkennt man den Fall. ("Dom" = das Haus, Domoi = nach [dem] Haus). Längst hatte ich bereut, als Besatzer nicht jedenfalls die russischen Brocken gelernt zu haben, die viele Landser kannten, wie z. B. "Chleb" = Brot, oder Moloko = Milch. Ich hatte in meinem Hochmut gesagt: "Die sollen gefälligst deutsch mit uns reden!" Es war ja in der Tat auch so, dass die Hiwis (russische Hilfswillige) bei den Kompanien oder die wenigen Zivilisten, mit denen wir gelegentlich zu tun hatten, recht gut Deutsch konnten. Die kyrillische Schrift erschwerte den Zugang zum Lesen russischer Vokabeln oder gar Texte. So kam ich mit meinem "Untermann" schnell ins Gespräch. Er war Philologe, Fremdsprachenlehrer, und kannte sich in der russischen Grammatik schon sehr gut aus. Auch mit dem russischen Alphabet und der Aussprache der Buchstaben und Laute hatte er bereits Fortschritte gemacht. Später im Waldlager erinnerte mich ein deutscher Brigadier, der aus Oberschlesien kam und über seine polnischen Kenntnisse sich schnell auf Russisch umgestellt hatte, an diesen eher etwas feingeistigen Philologen: Er hätte wohl als Übersetzer in einem Büro Gutes geleistet, aber an der nötigen Robustheit beim Umgang mit Russen und Gefangenen am Arbeitsplatz hätte es wohl gefehlt. Da waren die "Peronjes", wie wir ein paar unserer oberschlesischen Kameraden abfällig nannten, eher geeignet, die nun ihre Sprachkenntnisse auf eine nicht gerade feine Art nutzten. Sie waren als Brigadiere (Arbeitsgruppenleiter) eingesetzt und vertraten rücksichtslos unsere Bewacher. Der Ausdruck "Peronje" ist, wenn ich nicht irre, "abgeleitet" von dem russischen Perewodschik = Dolmetscher.

Mein Lazarettaufenthalt kann nur wenige Tage gedauert haben. Der Sprachlehrer wurde nicht mit mir entlassen, wir verloren uns aus den Augen. Aber fortan lernte ich immer mehr russische Wörter und Sätze zu lesen und auch zu übersetzen.

Ich verbrachte noch einige Tage in einer normalen Wohnbaracke in Schalome. Was ich dort zwar nicht direkt erlebte, jedoch brandheiss erfuhr, blieb haften: Ein Major hatte sich freiwillig vom Offizierslager zum Arbeitseinsatz gemeldet. Nur die Offizierssoldaten der drei unteren Ränge kamen in die Arbeitslager. (Major ist der untere Rang der Gruppe der so genannten Stabsoffiziere, bis zum Oberst, dann folgen die Generalsränge). Ich vermute, dass dieser Major in diesen Tagen im Lager blieb und nicht am Bahndamm arbeitete. So hatte er als "Innendienstler" viel Zeit, u. a. auch für den Empfang von Brot und "Zucker auf die Hand" für seine 10er-Gruppe. Die Offiziere bekamen sogar 40 g Zucker, die Mannschaften nur 20 g direkt. Auch 20 g Margarine oder Butter bekamen wir "auf die Hand", die anderen nichts. Angeblich stand uns auch etwas mehr Fleisch zu, das kam aber mit in die Suppe, und davon profitierten dann theoretisch alle. Praktisch waren die Suppen deshalb nicht sättigender. - Es muss Fälle von Mundraub oder Kameraden-Diebstahl gegeben haben, denn der Major hatte in solchen Fällen eine Tracht Prügel angedroht. Und nun hatten seine Kameraden ihn als Dieb erwischt. Vor dem Auswiegen mit der Plenniwaage hatte er ein bisschen zunächst für sich selbst abgezweigt und gehortet, möglicherweise war es beim Brot ähnlich gewesen. Ich denke, der gehortete Zucker verriet ihn. "Nun machen Sie mit mir, was ich dem angedroht habe, der das tut", soll er gesagt haben, bevor die Strafe vollstreckt wurde.

Nach 24 Tagen in Schalome war ich wieder im Hauptlager Tscherepowez, weil man mich wahrscheinlich in III/6 eingestuft hatte. Bei den Gleisarbeiten kamen wohl nur Leute der Kategorie I und II zum Einsatz. Irgendwann im Juni wird gefragt worden sein: Wer kann mit einer Sense umgehen, wer kann Gras mähen für die Heuernte? Meine praktischen Erfahrungen waren zwar nur gering, weil ich einen ganzen Schlag oder eine grössere Fläche auch noch nie gemäht hatte, aber ich konnte mähen und sogar dengeln, d. h. die stumpfgewordene Sense wieder gründlich schärfen. Gras mähen bedeutet Kolchose, und in der Landwirtschaft gibt es eher Essbares als in einer Fabrik oder am Bahndamm - dachte man. Also meldete ich mich. Ein etwa 15-Mann-Kommando wurde in einem LKW zu dem grossen Stück Grasland gefahren, das gemäht werden sollte. Da lagen ein paar Sensen, aber was waren das für Sensenbäume?! Denen fehlten doch die Handgriffe, und sie waren völlig gerade, ohne die geschwungene Form, wie wir sie kannten! Damit sollten wir mähen?! Mir fiel gleich auf, dass fast alle sehr zögerlich eine Sense in die Hand nahmen. Dies hatte aber wohl weniger mit dem geraden Sensenbaum ohne Handgriffe zu tun als mehr mit der Tatsache, dass die anderen noch weniger Mähpraxis hatten als ich. "Kolchose!" hatte auch sie motiviert. Von Kolchosgebäuden sahen wir jedoch nichts, die Aussichten auf eine "Sonderration" waren gleich null. Ich gehörte zu denen, die versuchten, das nicht besonders üppige Heugras zu mähen. Es hätte am Abend traurig ausgesehen mit unserer geleisteten Arbeit; da erschien eine Russin mittleren Alters, die im achten oder neunten Monat schwanger war. Sie nahm eine Sense, legte mit dem kurzen Sensenblatt einen gekonnten Schnitt in nicht vermuteter Breite hin, und in relativ kurzer Zeit hatte sie 15 bis 20 m gemäht, was uns fast beschämte. Wir taten unser Bestes bis zum Feierabend, aber der Erfolg war so mässig, dass wir am nächsten Tag nicht wieder in die Landwirtschaft gefahren wurden.

In diesem Lager Tscherepowez erlebten wir, die wir aus dem alten Reichsgebiet waren - also aus dem Deutschland ohne die Ostmark' -, mit einer gewissen Bitternis die Sonderstellung der österreichischen Mitgefangenen. Sie waren in den Einheiten, den Kompanien der Wehrmacht, nur (andere) Landsleute wie Schleswig-Holsteiner oder Pfälzer oder Hamburger und Berliner gewesen. Nicht grundsätzlich, aber doch in Einzelfällen ging es bunt durcheinander und natürlich auch zu Beginn in der Gefangenschaft. Nun aber waren "Deitsche" und "Eeösterreicher" plötzlich zwei verschiedene Völker, und die Österreicher galten jetzt als von Deutschland Okkupierte und von den Alliierten Befreite. Die Kameraden der ehemaligen Ostmark wurden 1946 in die Heimat entlassen. Ein liebenswerter österreichischer Hauptmann, wir nannten ihn "Käpt'n", beurteilte das durchaus als ungerecht, freute sich aber doch - und wir mit ihm - dass er nach Hause fahren durfte. Natürlich erinnerten wir uns an den Jubel der Österreicher, als Hitler 1938 mit grossem Pathos "vor der Geschichte die Rückkehr seiner Heimat in das Deutsche Reich meldete".

Nicht nur Österreicher, es hatten viele Soldaten anderer europäischer Völker auf deutscher Seite gekämpft. Sie alle wurden gesammelt für die Entlassung.

Zwischendurch warteten die meisten, genauso wie ich, endlich eine Antwortkarte aus der Heimat zu bekommen. - Am 15. Juni 1946 gab es im Hauptlager wieder - diesmal für jeden Plenni - eine Doppelkarte für Grüsse in die Heimat. Ich nannte diesen Tag auf der Karte an Mutter einen "Festtag in der Gefangenschaft", weil ich die lang unterbrochene Verbindung "durch diese Karte wieder herstellen" konnte "und werde voller Ungeduld auf die (erste) Antwort warten. Du siehst, Dein Junge lebt, und er glaubt und hofft, wie alle anderen Kameraden auch, dass sich der Stacheldraht in nicht allzu langer Zeit für immer auftun und der Marsch in die Freiheit, in ein neues Leben Wirklichkeit werden wird. ... Ich freue mich unbändig auf den Tag, an dem es heisst, so, jetzt nimm deine Zukunft in deine Hände und lege den Grundstein. ... Tausend Fragen hätte ich, ... aber was soll ich zuerst, was zuletzt fragen?? Aber das Wichtigste ist doch: wie geht es Euch?..."

Ende Juni trat ich innerhalb einer grösseren Gruppe wieder an zu einem Wechsel in ein anderes Lager, also mit Gepäck. Ich denke, ich hatte bereits den kleinen Holzkoffer, von dem ich nicht mehr weiss, wie und wann ich in seinen Besitz kam, dabei spielte er eine so wichtige Rolle, am meisten vor und während des Heimtransports. Die Masse waren etwa 30 x 40 x 10 cm. - Es ging zum Güterbahnhof von Tscherepowez. Ich weiss nicht, wie viele Gefangene diese Verlegungsgruppe zählte. Der Güterwaggon hatte zwar keine Zwischendecks, aber die Bänke an den Waggonwänden reichten nicht für alle. So hockten oder lagen denn etliche auf dem Boden. Als die Lok angekuppelt war, den Ruck und die krachenden Geräusche kannten wir ja, begann die Fahrt in Richtung Kirow, also weiter gen Osten. Wir kamen aber nicht in oder durch diese Stadt, sondern bogen vorher nach Westen ab in Richtung Gorki - Moskau. Nach vielleicht einem Drittel der Strecke von Kirow nach Gorki und "etwa 750 km vor Moskau", wie ich sehr viel später erfuhr, hielt der Zug. "Dawai, aussteigen!" Keiner von uns dürfte geahnt oder geglaubt haben, dass wir anderthalb Jahre in dieser einsamen, ausgedehnten Waldgegend bleiben würden.

Ein kleines Holzhaus war die Bahnstation, sonst nichts als Wald und Ackerlandschaft. - Mussten wir uns bei der Station "po piat" (Fünferreihen) formieren? Ich denke, diesmal wohl nicht - oder doch? Die Gruppe war relativ klein, vor allem aber war der Feldweg bis zum Lager tief im Kiefernwald eigentlich zu schmal für eine breite Marschkolonne. Die Telefon- und Elektroleitung am Wegrand war Indiz dafür, dass es nicht in die Wildnis ging. Unterwegs fragten wir unsere mit der MP bewaffneten Bewacher: "Skolko - (wie viel) Kilometer?" Anfangs hatte es geheissen: "12 Kilometer". Aus Erfahrung wussten wir aber, dass man bei diesen Auskünften gut und gern 1/4 der Kilometerangabe hinzurechnen konnte. Wir nannten die Kilometerangaben "russische Kilometer". Es waren in der Tat 16/17 Kilometer zwischen der Station und dem Lager.

Zuerst ging es an ausgedehnten Getreide- und Erbsenfeldern entlang, aber bald war da nur noch Wald, hoher Kiefernbestand, dazwischen immer wieder einige meist recht starke Birken. Schliesslich lichtete sich der Wald, und wir sahen unsere "neue Heimat."


Lebenslauf von Willi Krück

Familie von Willi Krück1923 wurde ich als viertes von fünf Kindern in einem grösseren Dorf in Schleswig-Holstein geboren. Drei Jahre nach meiner Geburt starb mein Vater an Magenkrebs. Die materielle Grundlage der vaterlosen Familie waren das eigene Haus mit grossem Garten und etwas Weideland für zwei Kühe. Den seelischen Beistand, den Mutter bei Gott fand, versuchte sie, auch uns Kindern zu vermitteln.

Dennoch faszinierte mich schon im Grundschulalter das Leben des Frontsoldaten im 1. Weltkrieg, und nach 1933 wurde unter Hitler die vormilitärische Ausrichtung vor allem der Jugend zum staatlichen Erziehungsprinzip. Leo Tolstois Zitat sollte sich folgenschwer bewahrheiten: "Bevor ein Krieg ausbricht, hat er längst schon in den Herzen der Menschen begonnen."

Als der 2. Weltkrieg 1939 begann, befand ich mich bereits auf dem Weg zum Volksschullehrer, nachdem ich neun Jahre die Volksschule besucht hatte. 1942 wurde ich zu den Panzerjägern einberufen. Den Krieg an der Front erlebte und überlebte ich im Kessel von Demjansk südlich des Ilmensees, an der Leningradfront und in Kurland/Lettland. Als Leutnant und Kompanieführer wurde ich am 19. März 1945 schwer verwundert, und am 21. Juni 1945 begann der Marsch und der Transport in die Kriegsgefangenschaft.

Nach der Heimkehr 1948 konnte ich die Ausbildung/das Studium zum Volksschullehrer 1951 beenden, wurde 1957 Schulleiter einer Dorfschule und 1963 bis zur Pensionierung Ende 1985 war ich Rektor einer grossen Volksschule in Quickborn nördlich von Hamburg. 1951 heiratete ich meine Frau Thyra. Tochter Maren und Sohn Karl-Hermann wurden uns 1954 bzw. 1958 geschenkt. Seit 2004 wohnen wir im eigenen Haus auf dem hinteren Grundstück unseres Sohnes, unserer Schwiegertochter und unserer Enkelin Anna in Teltow an der Süd(west)grenze von Berlin. Tochter und Schwiegersohn wohnen und arbeiten in Berlin.

Kategorie: Erinnerungen von Kriegsgefangenen | Hinzugefügt von: Anatoli
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