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Siegfried Hackenberg: Erinnerungen eines Kriegsgefangenen
29.05.2013, 23:31

S.HackenbergDie härteste, die grausamste Zeit meines langen Lebens erlebte ich in den vier Jahren meiner Kriegsgefangenschaft in Rußland. Trotzdem plagt mich immer wieder die Sehnsucht, erneut hinzureisen. Dieses geheimnisvolle, unendlich weite, unermeßlich reiche Land der hellen, wunderschönen Birken und der dunklen Nadelwälder, sowie der liebevollen, aber armen Menschen zieht mich immer an. Unverständlich und unerklärlich ist mir die Zuneigung der Deutschen und der Russen zueinander, aber es macht mich glücklich. Ich bin 82 Jahre alt. Die wenige Zeit die mir zum Arbeiten noch gewährt wird, will ich nutzen für die Freundschaft mit Rußland und die Entstehung Europas. Bitte helfen Sie mir.

Siegfried Hackenberg
Wermelskirchen, 1997






Deutsche Kriegsgefangene in Rußland

..Dieses heikle Thema bemüht man sich, niemals zu berühren. In Wahrheit, diese Seite wurde in beiderseitigen Beziehungen zweier Nationen, die einen Krieg gegeneinander geführt haben, überhaupt nicht erörtert. Aber diese Seite gab es. Sie hat eine tiefe Spur im Leben und in der Erinnerung bei den Deutschen und auch den Russen hinterlassen."

Diese Sätze standen am 20. Mai 1995 in der Zeitung "Roter Norden" am Anfang eines Berichtes, den die Journalistin Natalie Serowa schrieb über meinen Besuch in Wologda und Grjassowez, fast 50 Jahre nach meiner 4-jährigen Kriegsgefangenschaft in diesem Gebiet.

Die junge Dame war spürbar bemüht, beim Brückenbau zwischen deutschen und russischen Menschen behilflich zu sein. Dafür bin ich ihr sehr dankbar, das ist auch mein Ziel.

Zur Sache:

Vom 22. August 1944 bis zum 18. September 1944, von Tiraspol am Dnester bis Taragul Ocna in den Karpathen, war ich hinter den russischen Linien auf der Flucht durch Rumänien. Durch die List eines rumänischen Schafhirten kam ich ohne Gegenwehr in die Gefangenschaft einer Kosakentruppe. Der Anführer, ein Hauptmann, war ein großzügiger Sieger. Er befahl einem Sanitäter seiner Einheit, meine verschmutzten Splitterverwundungen an beiden Beinen zu behandeln und zu verbinden. Das war eine beruhigende Erfahrung der Menschlichkeit zwischen feindlichen Soldaten.

Doch das änderte sich schnell. Bei der Einlieferung in eine Gefangenensammelstelle fand ein russischer Soldat Gefallen an dem Reitleder meiner Hose. Er trennte den Lederbesatz unsanft vom Hosenboden. Ein anderer Iwan probierte meine Offiziersstiefel, da sie paßten, behielt er sie gleich an. Ich mußte weiterziehen - barfuß, beziehungsweise mit Lumpen umwickelten Füßen.

Es war ein Elendszug von über hundert Entkräfteten, Verwundeten, Kranken, die zum Lager Roman getrieben wurden. Auf dem vieltägigen Elendszug nach Norden mußten uns rumänische Frauen mit Mamaliga (Maisbrei) füttern. Wir nächtigten auf den Fußböden von Dorfschulen. Beim Weiterschleppen knallte es ab und zu am Ende des Zuges, dann hatte eine schnelle Kugel einem Marschunfähigen zum erlösenden Tod verholfen. Im Lager Roman grassierte die Ruhr.

Ich habe in den vierziger Jahren viele Wunder erlebt, daß ich das Lager Roman lebend verlassen konnte, ist eines der größten Wunder.

Um die Wende Oktober / November 1944 wurden wir, 135 Offiziere, in einen Großraumgüterwagen gepfercht, im Boden war ein ca. 35 x 30 cm großes Loch für Bedürfnisse. Der Wagen wurde angehängt an einen Transportzug rumänischer Arbeiter ins Kohlenrevier von Schachty. Später stellte sich heraus, daß wir an einem Eisenbahnknotenpunkt unterwegs hätten abgekoppelt werden sollen, um von dort ins Offizierslager Jela Buga im Ural zu kommen. Das hatte nicht geklappt. Nun lagen wir in einer Baracke auf Brettern ohne Strohsäcke. Die Verpflegung war sehr gering. Die rumänische Lagerleitung sorgte in erster Linie für ihre hart im Bergwerk arbeitenden Landsleute. Die deutschen Offiziere, die nicht arbeiten konnten und durften, wurden entsprechend behandelt. Es starben in 1,5 Monaten 24 Männer am Hunger.

Ende des Monats Dezember wurden wir in 13-tägigem Transport über Weihnachten und Neujahr 1944/45 östlich an Moskau vorbei nach Grjassowez transportiert. Als Verpflegung für diesen Transport führte die Begleitmannschaft Salzheringe und Brot mit. Der Durst der geschwächten Gefangenen wurde von Tag zu Tag unerträglicher. Ein junger russischer Begleitsoldat beobachtete unsere Qual. Er sah, wie wir vom Bandeisen im Waggon das Kondenseis abkratzten, um unsere Zunge zu netzen. Er rannte bei kurzen oder längeren Aufenthalten auf Güterbahnhöfen umher, um für die deutschen Gefangenen in kleinen Gefäßen Wasser zu besorgen. Gegen die beißende Kälte konnte er uns nicht schützen.

Ich weiß es nicht mehr, ob wir am 2. oder 3. Januar 1945 in Grjassowez eintrafen. Dunkel erinnere ich mich, daß wir mit letzter Kraft, etliche wurden von Begleitsoldaten gestützt, im Lager eintrafen. Es starben wieder einige Kameraden.

Deutsche Helfer aus dem Lager sorgten dafür, daß wir in die Quarantäne-Baracke kamen, daß es Verpflegung und heiße Getränke gab, daß wir in die Banja geführt wurden, und daß die verschmutzte Bekleidung ausgetauscht wurde gegen alte, aber desinfizierte Kleidungsstücke. Wir wurden von russischen Ärztinnen unter Assistenz deutscher Mediziner untersucht und behandelt. Meine Verwundungen an beiden Unterschenkeln wurden nun regelmäßig gepflegt und waren bis Ende April verheilt. Nach einer Zeitspanne der Umstellung gewöhnte sich unser Körper an die veränderte, aber regelmäßige Zufuhr von Suppe, Brei, 400 g Schwarzbrot, 200 g Weißbrot, 30 g Fett, 40 g Zucker und etwas Tabak. Da die Trockenverpflegung in Zehnerportionen ausgegeben wurde, mußten sich immer 10 Gefangene zu einer Gruppe zusammenfinden. Einer wurde zum „Verteiler" gewählt. Eine hängende Waage war bald gebastelt und Steine als Gewichte zusammengesucht. Wir wurden nie das Hungergefühl los, sicher war das auch etwas psychologisch bedingt.

Der russische Lagerkommandant, Oberst Sirma, führte mit harter, aber korrekter Hand seine Bewachungssoldaten, die äußere russische Lagerleitung und die innere deutsche Lagerleitung. Das habe ich als gefangener Soldat voll akzeptiert, und auch ein großer Teil der Mitgefangenen verstand das.

Im Rahmen der vorgegebenen Bestimmungen hatten sich unter den über 3.500 gefangenen Offizieren erhebliche Eigeninitiativen entwickelt. Handwerker aller Art fertigten mit Geschick Büchsen, andere Gefäße und Gebrauchsgegenstände des täglichen Bedarfs an. Nach Kriegsende kamen aus amerikanischen Lieferungen Blechkonserven der Firma Oscar Maier, Chikago, ins Lager. Das geleerte Blech, außen silbern, innen golden, war ein zum Basteln wunderbares Material. Geschickte Hände fertigten daraus mit primitiven Werkzeugen und großer Handfertigkeit entzückende Tassen und Untertassen, außen silbern, innen golden. Die russischen Offiziere und Unteroffiziere waren sehr interessiert, solche schönen, handgearbeiteten Gefäße zu erwerben, und es blühte der Tauschhandel. Wir Gefangenen nannten diese Blecharbeiten „Oscar Maier Porzellan".

Ich kann mir vorstellen, daß heute noch in alten Häusern von Grjassowez Überbleibsel von Handarbeiten deutscher Kriegsgefangener aus den Jahren 1944 bis 1948 aufgehoben werden.

Ich würde solche Erinnerungsstücke gerne kaufen.

Eine sehr interessante Entwicklung habe ich aus nächster Nähe erlebt. Ich lernte Anfang 1945 den Kriegsgefangenen Fliegerleutnant Lorenz Seeger kennen. Wir freundeten uns an, und das hat bis heute gehalten. Lorenz ist jetzt 86 Jahre alt und lebt in Remscheid. Wir telefonieren oft miteinander. Ich habe in meinem langen Leben keinen Mann kennengelernt, der so außergewöhnlich vielseitig technisch begabt ist wie er.

Lorenz hatte beobachtet, daß auf den Feldern, außerhalb des Stacheldrahts unseres Lagers, noch im Winter, in Hocken zusammengetragener Flachs stand. Er ging zur Lagerleitung und machte Vorschläge, was man daraus machen könnte. Die deutsche Lagerleitung gab die Vorschläge weiter. Eines Tages lag im Vorraum (Windfang) der Leutnantsbaracke ein großer Haufen gedroschener Flachs. Lorenz bastelte ein Gestell, auf dem durch eine Handkurbel mehrere Haken nebeneinander sich drehten. Er lernte junge Gefangene an, mit Flachs vor der Brust, rückwärtsgehend, vom drehenden Haken aus eine Schnur zu spinnen. Sehr bald hatten die Männer große Geschicklichkeit im Spinnen feiner oder gröberer Schnüre. Als die "Spinnerei" lief, bastelte er einen kleinen Webstuhl und webte etwa 10 cm breite Bänder. Die wurden gebraucht zum Anfertigen von Holzpantinen für Kameraden. Noch später knüpfte er sogar Fischnetze für die russischen Bewacher und die Gefangenenküche.

Zu meinem Geburtstag im April 1947 schenkte er mir eine selbst gesponnene und selbst geknüpfte Hängematte.

Kulturelle Bestrebungen aller Art wurden von der russischen Lagerleitung nicht nur geduldet, sie wurden auch gefördert. Daß dabei die politische Färbung sorgfältig beobachtet werden mußte, versteht sich.

Es gab Laienspielgruppen, eine Bibliothek, Musiktreibende und Sportbeflissene.

Da ich schon bald zu Außenkommandos ausrückte, habe ich das immer nur von weitem beobachten können. Ich entsinne mich aber, daß ich einmal aus der Bibliothek entliehen habe den Roman von Lermontow "Ein Held unserer Zeit", den ich mit großem Interesse verschlang. Man konnte in der Bücherei auch für 4 Rubel (monatliches Taschengeld) ein dickes Buch kaufen und zwar die Geschichte der KPDSU in russischer Sprache. Da es keine Möglichkeit gab, für mancherlei Zwecke Papier zu bekommen, war uns diese Quelle sehr angenehm.

Ich bin in russischer Kriegsgefangenschaft nie geschlagen worden und habe so erniedrigende Handlungen auch bei anderen nicht erlebt. Aber der politische Druck durch das "National Komitee Freies Deutschland" war im Lager bedrückend, auf Außenkommando jedoch kaum bemerkbar. Der Politkommissar Klingbiel mußte natürlich seiner Aufgabe gemäß tätig sein und war uns dadurch unangenehm. Er war mir persönlich aber nicht so unsympathisch wie die NSFO (Nationalsozialistische Führungsoffiziere), die wir seit Anfang 1944 bei der Truppe hatten.

Ich war nie einem unangenehmen Verhör unterworfen. Das dürfte daran liegen, daß meine Division, die 161. ostpreußische Infanterie Division, immer von aufrechten Offizieren geführt wurde, die auch Mut hatten gegenüber Vorgesetzten. Ich habe es erlebt, dabei gestandene als mein Divisionskommandeur, General Drekmann, vor seinem kommandierenden General stand und einen von oben gekommenen Befehl verweigerte mit den Worten: "dann Herr General, reichen Sie einen Tatbericht gegen mich ein, es stehen nicht nur über 10.000 Mann hinter mir, ich stehe auch vor ihnen."

Dieser schreckliche Krieg, in dem zwei unmenschliche Systeme danach trachteten, sich gegenseitig zu morden, hat auch nicht wenige Inseln der Korrektheit gehabt. Ich bin heute noch dankbar, daß ich auf einer "korrekten Insel" sauber gekämpft habe. Leider haben wir "Untergebenen" zu spät erfahren, daß wir mißbraucht wurden.

Am 8. Mai 1945 kapitulierte Deutschland. Am 9. Mai 1945 wurde uns der Berija-Befehl bekanntgegeben, daß Offiziere bis zum Hauptmann zur Arbeit verpflichtet seien. Am 10. Mai 1945 rückte ich in einer Arbeitskompanie aus zum Straßenbau unweit des Lagers. Ich weiß nicht mehr, wie das Dorf hieß. Wir waren etwa 80 bis 100 Mann, schliefen in einer großen Scheune und bekamen die Verpflegung täglich vom Lager.

Vor der Scheune war ein großes Roggenfeld. Der Roggen wuchs sehr schnell, wir stellten täglich Stöckchen in den Roggen, um die Schnelligkeit des Wachsens zu beobachten. Wir wurden uns bewußt, daß wir im Land der weißen, der kurzen Nächte waren.

Im September 45, als die Nachtfröste begannen, ging es zurück ins Lager. Anfang Oktober ernteten wir vom Lager aus in der Umgebung Erbsen. Danach, Ende Oktober, lernten wir Kartoffeln ernten, indem wir mit Brecheisen gefrorene Erdschollen wendeten und die dann oben liegenden, gefrorenen Erdäpfel abpflückten. Eine saubere Kartoffelernte. Nur waren die Kartoffeln durch den Frost süß geworden. Da wir beim Ernten schon viele roh aßen, war das eine erträgliche Variante.

Es muß so um November/Dezember gewesen sein, als wir, 10 Deutsche und ein ungarischer Gefangener als Hilfsbewacher mit Uraltkarabiner und 5 Patronen von einem russischen Soldaten mit Maschinenpistole abgeführt wurden. Nach mehrstündigem Marsch erreichten wir ein Dorf an der Bahnlinie Jaroslawl - Wologda. In einer Dorfschule wurden wir einquartiert. Nachdem wir in der Kolchos-Scheune unsere Strohsäcke gefüllt hatten, ernannte der russische Soldat den ungarischen Gefangenen zum Führer des Arbeitskommandos. Er führte uns unweit des Dorfes zum Bahndamm an eine Haltestelle der Eisenbahn und erklärte uns, daß wir jeden Morgen um 6.00 Uhr (?) von hier nach Wologda fahren sollten mit den Schneeschaufeln, die schon bereitstanden. Vom Anfang der Stadt Wologda sollten wir uns dann schneeräumend zu unserem Dorfzurückarbeiten. Er schätzte, daß wir für die etwa 20 km 5 - 6 Stunden brauchen würden. Jetzt wurde uns auch klar, warum wir im Lager mit Walinkias, Wattehosen, Jacken, Mänteln und Pelzmützen ausgerüstet worden waren. Mittags würde uns vom Lager die Tagesverpflegung gebracht werden. Da wir morgens schon vor 7.00 Uhr in Wologda sein würden, sollten wir bei den letzten Häusern anklopfen, laut "moschne" (darf ich) sagen und uns bis zum Tagesanbruch in der warmen Stube aufhalten. Dann sollte unsere Arbeit beginnen. Nun sagte unser Bewachungssoldat grinsend "Doswidanja" und verschwand.

Als wir am nächsten Morgen in den Zug kletterten, mußten wir zuerst der Waggon-Aufseherin erklären, daß wir Kriegsgefangene wären, und welcher Auftrag uns in den Zug führte. Wir hatten ja keine Fahrscheine. Sie lachte, räumte resolut für uns Sitzplätze frei und brachte ihren Kanonenofen mit Holz auf höchste Touren. In Wologda geschah'es, wie befohlen. Die Bewohner des kleinen Hauses, an dessen Tür ich anklopfte und "moschne" sagte, erwiderten wie selbstverständlich "moschne" und rückten sogar auf dem Pietschko zusammen, um mir einen Platz anzubieten. Damit hatte ich nicht gerechnet, sagte mehrfach "dankeschön" und blieb auf der Bank sitzen.

Die Gastfreundschaft in Rußland ist einmalig.

Mit Anbruch des Tageslichts begann unser Auftrag, der sehr hart war. Zwei Tage später schob unser Bewachungs-Ungar seine Flinte unter den Strohsack, steckte seine 5 Patronen in die Tasche und erklärte uns, daß er nun einen Freund besuchen würde und nach zwei Tagen zurückkäme.

Genauso geschah es auch.

Nach weniger als einer Woche wurden wir ins Lager zurückgeholt. Es hatte sich herausgestellt, daß "unsere" Straße immer kurz nach dem Räumen hinter uns schon wieder zugeweht und zugeschneit war.

Anfang Januar 1946 wurden wir, etwa 80 Mann, plötzlich und unerwartet ausgewählt und vom Lager aus in Marsch gesetzt. Unsere wenigen Habseligkeiten, Blechbüchsen, Frühstücksbrett und Decke, hatten wir im entleerten Strohsack auf dem Rücken, als wir auf schmalem Schlittenweg bei hartem Frost im Gänsemarsch in die neue Ungewißheit zogen. Gegen Abend erreichten wir unser Ziel, das Dorf Ogarkowo. Jetzt erfuhren wir vom Dolmetscher etwas über unsere Aufgabe. Wir sollten eine gezeichnete Schneise kahlschlagen, roden und planieren als Vorarbeiten zum Bau der Straße. Inzwischen hatten die uns begleitenden Soldaten einige Häuser geräumt und pferchten uns hinein.

Wir schlugen am nächsten Tag im Wald Stämme und Stangen, bauten uns dreistöckige Pritschen in die kleinen Panjebuden und stopften in der Kolchos-Scheune unsere Strohsäcke mit Stroh. Die Quartiere waren furchtbar eng aber dadurch wenigstens warm. Eine altes Plenny-Wort sagt: "Es ist schon mancher erfroren, aber noch keiner erstunken." Danach durften wir also Hoffnung haben zu überleben. Trotzdem waren wir froh und dankbar für jede Stunde, die wir nicht in der verwanzten Unterkunft verbringen mußten. Wenn wir in achtstündiger, schwerster Arbeit unser kärgliches Essen verdient hatten, genossen wir erstaunlich viel Freiheit. Wir durften uns frei in und um das Dorf bewegen, ja wir gingen sogar sonntags oft zehn und mehr Kilometer über Land, um in den benachbarten Dörfern bei der uns freundlich gesinnten Bevölkerung zu handeln. Mit zunehmender Dauer unseres Aufenthaltes bekamen wir ein freundliches Verhältnis zu den Dorfbewohnern, die fast ausschließlich aus Frauen und Kindern bestanden. Sie waren uns bald alle mit Namen bekannt, und wir tauschten freundschaftliche Grüße, sooft wir uns sahen. Durch die mancherlei kleinen und großen Hilfen und Handreichungen,die wir den Leuten erwiesen, kam man uns sogar mit einer gewissen Achtung entgegen. Waren doch in unserer Arbeitskompanie die verschiedensten Berufe vertreten, und es hieß bald in der weiteren Umgebung: "Die Deutschen können alles." Die erbetenen und gewährten Hilfeleistungen lagen aber auch wirklich auf allen Gebieten. Sie erstreckten sich von der Geburtshilfe oder Krankheiten bei Mensch und Tier durch unseren Arzt oder Veterinär über das Reparieren der seltenen Uhren und Nähmaschinen, das Mauern von Pietschkos, den russischen Kachelöfen, das Abstützen baufälliger Häuser und mancherlei anderer handwerklicher Hilfen in Haus und Hof bis zum Schlachten des gefährlichen und bösartigen Bullen. Man kam aber auch mit jedem Anliegen zu den Njemjetzkie und belohnte sie für ihre Hilfe mit Kartoffeln, Zwiebeln, Gurken, Milch oder Quark.

Dicht neben dem Quartier, in dem ich mit etwa 40 Kameraden wohnte, war ein besonders kleines, halb verfallenes, ärmliches Panjehäuschen, in dem ein altes Ehepaar mit einer etwa 16-jährigen Tochter, einer Kuh, einem Kalb und zwei Schafen hauste. Er war der einzige Mann im Dorf. Ein großer, immer noch stattlicher alter Mann mit fahlgraugelbem Bart, alter Pelzmütze, Schafepelz und Walinki, den russischen Filzstiefeln im Winter, oder Schaftstiefeln im Sommer. Wir versuchten oft, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Das war nicht so einfach. Er verstand kein Wort deutsch, wir verstanden nur wenig russisch, und die wenigen uns bekannten Worte blieben uns bei ihm meist noch unverständlich, weil sie es kaum vermochten, durch das sein Gesicht verdeckende, dichte Bartgestrüpp zu unserem Ohr vorzudringen. Irgendwie wurde aber nach und nach doch einiges von ihm bekannt. Er hatte in seiner Jugend irgendetwas verbrochen und war dafür in diese Gegend verbannt worden. Weshalb, warum, war nicht in Erfahrung zu bringen, vielleicht wußte er es auch selbst nicht mehr so recht. Er hatte in den Dörfern der weiteren Umgebung gelebt und gearbeitet und sehr viel später dann dieses Häuschen mit dem dazugehörigen unscheinbaren Weiblein geheiratet. Und dann hatte er noch eine erstaunliche Tochter gezeugt, die jetzt 16-jährige Vera. Vera hatte ein wenn auch volles, so doch feines Gesicht, blondes Haar, das meist unterm Kopftuch verborgen war und - ja und einfach tolle Rundungen an den dafür vorgesehenen Stellen. Ja, sie war erstaunlich, und ich weiß nicht, zu welchen Dummheiten wir fähig gewesen wären, wenn die Verpflegung nicht so knapp und die Arbeit so hart gewesen wäre. Nun, wir waren nicht fähig. Ja, das war also unser lieber Nachbar und seine Familie. Wir nannten ihn den Ewig Verbannten.

An einem Morgen im August, beim Antreten zur Arbeit um 6 Uhr, lief ein Gerücht von Mund zu Mund, sprang über zu den nächsten Arbeitsgruppen und machte alle Gesichter traurig. Der Ewig Verbannte ist heute nacht gestorben. So unauffällig und bescheiden wie er gelebt hatte, so unauffällig, still und ohne daß es jemand vorausahnen konnte, war er verschieden. Auf dem Weg zur Arbeit, bei der Arbeit, wurde nur von dem traurigen Ereignis gesprochen. Mein Freund Helmut Hansen, Hauptmann, Anfang 30 wie ich, arbeitete mit mir zusammen. Wir sprachen vom Schicksal, von Leben und Tod und stellten tiefsinnige Betrachtungen an. Wir arbeiteten an einer Stelle, an der der alte Fahrweg neben unserer neu zu bauenden Autostraße lief.

Es mochte gegen 8 Uhr sein, als wir ein trauriges Gefährt kommen sahen. Ein klappriger Panjewagen, davor das Kamel, so nannten wir den ältesten, krummsten und knochigsten Gaul der Kolchose, und daneben die Frau des ewig Verbannten. Sie weinte mit gesenktem Kopf lautlos vor sich hin und schlug in kleinen Abständen mit einem Knüppel auf das knochige Hinterteil des Gauls, damit er nicht vor Schwäche einschliefe. Sie fuhr vorbei, ohne uns zu sehen, ohne uns zu grüßen. Wir hatten weiteren Gesprächsstoff. Um 10 Uhr war wie immer eine halbstündige Arbeitspause. Im Gespräch, neben unserem Arbeitsplatz im Schatten eines Baumes liegend, sahen Hansen und ich auf einmal die Frau des Ewig Verbannten mit ihrem Gefährt zurückkommen. Jetzt stand auf dem Panjewagen ein roh zusammengeschlagener Sarg. Wieder trottete die Frau, auf den Gaul einschlagend, nebenher. Doch ihre Tränen waren versiegt. In unserer Höhe angekommen, sah sie plötzlich auf, erkannte uns, stutzte kurz, überlegte wohl, ging dann vom Wagen ab auf uns zu. Das Pferd blieb sofort stehen. Wir erhoben uns ungeschickt, verlegen, während sie nun schon vor uns stehend mit monotoner Stimme berichtete, daß ihr Mann in der letzten Nacht gestorben sei. Wir, der Sprache nur wenig kundig, verstanden sie wohl, wußten aber nichts zu entgegnen. Es war uns nicht bekannt, wie man auf russisch kondoliert. Also sagten wir nur mit traurig-betretenen Gesichtern da-da-da-da und legten in dieses ja-ja-ja-ja alles Beileid und alle Traurigkeit hinein, deren wir fähig waren. Ihre monotone Stimme sprach weiter und erzählte uns, daß sie nun soviel Arbeit habe, daß aber ihre Tochter Vera jetzt in der Ernte von der Kolchose nicht frei bekomme. Sie, die Mutter, habe den Wunsch, ihren lieben Verstorbenen in geweihter Erde bei der Kirche beizusetzen, habe aber nicht Zeit noch Kraft, das Grab selbst auszuheben. Dann schaute sie uns aus rotgeweinten Augen flehend an und fragte, ob wir ihr nicht helfen könnten. Wir versprachen es sofort, ohne zu wissen, ob es möglich sein würde. Angesichts dieses Elends hätten wir gar nicht nein sagen können. Nun, wir möchten nach der Arbeit zu ihr kommen. Sie trottete davon, gesenkten Hauptes, ohne einmal aufzusehen, das Kamel mit rhythmischen Stockschlägen auf das knochige Hinterteil schlagend.

Kurze Zeit danach kam der Führer unserer Arbeitskompanie, der deutsche Hauptmann Grimsehl, vorbei. Er war ein Mann, der in blindem Eifer, den Sowjets treu zu dienen, zum üblen Antreiber seiner eigenen Kameraden wurde. Wir, Hansen und ich, überwanden unsere Verachtung, sprachen ihn an, trugen ihm das eben Erlebte vor und baten darum, etwas früher von der Baustelle gehen zu dürfen. Zu unserem größtem Erstaunen sagte er ja, machte uns nur zur Bedingung, daß wir vorher unser Arbeitssoll erfüllen und daß wir heimlich seitwärts durch die Büsche verschwinden müßten. Wir versprachen es, gingen wie wild an die Arbeit und arbeiteten pausenlos bis in den frühen Nachmittag. Dann nahmen wir Spaten, Schaufel, Beil und Kreuzhacke und schlugen uns seitwärts in die Büsche.

Vor ihrer Kate trafen wir mit der Frau zusammen. Sie schleppte auf ihrem schmalen Rücken einen Tisch, den sie bei Nachbarsleuten ausgeborgt hatte. Als wir ihr den Tisch in die einzige Stube trugen, sahen wir den Ewig Verbannten gewaschen, gekämmt, in schneeweißer Rubaschka, dunklen Hosen und blanken Schaftstiefeln wachsbleich auf der Bank liegen. Wir drückten uns scheu wieder heraus. Die alte Frau verschloß sorgfältig dieTüre und trottete sodann, ohne ein Wort zu sagen, im Tempo eines kleinen Dauerlaufes Richtung Dorfausgang vor uns her. Hinter dem Dorfging es auf schmalen, fast verwachsenen Wegen durch Busch und Berg auf und ab. Nach etwa einer halben Stunde öffnete sich plötzlich vor uns der Hochwald auf eine buschbestandene Lichtung, und über dem Buschwerk ragte hoch empor der rote Backsteinbau der Kirche mit dem charakteristischen russischen Zwiebelturm. Während der Arbeit an der Straße hatten wir schon ab und zu von erhöhten Stellen aus in der Ferne die Waldkirche malerisch schön daliegen sehen. Nun sahen wir sie aus der Nähe und waren erschüttert. Die Fensterhöhlen waren leer, überall waren Steine ausgebrochen, in den Mauern waren große Löcher, das Dach war eingestürzt. Die Alte führte uns an die eine Seite des Kirchenschiffs und sagte mit einer vagen Handbewegung: "Hier könnt Ihr das Grab graben." Wir sahen uns inmitten eines wüsten Gebüschs von brusthohen Brennesseln, Fingerhut, Himbeerranken und anderem Gestrüpp. Auf unsere Bitte, den Platz genauer zu zeigen, deutete sie irgendwo hin. Ich schlug an der bezeichneten Stelle mit dem Spaten das Gestrüpp nieder und stellte fest, links ein altes Grab, rechts eins und oben quer auch eins. In der Mitte ein schmaler, langer Streifen, zu schmal für ein Grab. Ich sagte: "Babuschka (Großmütterchen), das langt nicht, das ist zu knapp." "Ach," meinte sie, "Batuschki (Vetterchen), nimm von dem linken und dem rechten und dem oberen ein Stückchen dazu, dann wirds langen, und die haben nichts dagegen. Nitschewo". "Nu ladno, wie du meinst," resignierte ich, und wir zogen unsere Jacken aus. Das Weiblein verschwand, und wir begannen mit der Arbeit. War das eine Arbeit! Unter einer dünnen, unkrautbewachsenen Erdschicht stießen wir auf Geröll, Steine, Ziegelsteine, Mörtel. Im Schweiße unseres Angesichts arbeiteten wir abwechselnd mit Spitzhacke und Schaufel, Stunde um Stunde. Da wir vergessen hatten, am Sarg Maß zu nehmen, gruben wir die Grube vorsichtshalber etwas größer als uns nötig schien. Danach brachen wir Zweige ab und pflückten Blumen, um den Erdaushub zu decken und die Grube zu schmücken. Mit müden Schritten, zu müde zum Sprechen, gingen wir zum Dorfzurück und zur Hütte der Alten, um ihr zu sagen, daß das Grab gerichtet sei.

Wir fanden sie hinter ihrem Häuschen, mit dem einen Arm fast bis zur Schulter im Innern eines geschlachteten Schafes. Unseren Bericht über die Fertigstellung des Grabes nahm sie mit stillem aber herzlichem Dank entgegen und bat darum, wir möchten doch auch am nächsten Tag, kurz nach Mittag, am Begräbnis teilnehmen und behilflich sein, den Sarg herabzulassen. Wir sagten zu. Darauf lud sie uns mit herzlichen Worten zum anschließenden Prassnik, dem Beerdigungsschmaus, ein. In der Annahme, daß diese Einladung für sie ein notwendiges Übel, eine Verpflichtung aus Höflichkeit uns gegenüber sei, lehnten wir dankend ab, das sei "nie nada", nicht nötig. Jetzt wurde die Alte plötzlich lebhaft, laut und böse. Sie war beleidigt. Ob es den "Gospoda Officere", den Herren Offizieren nicht gut genug sei? Sie seien zwar arme Leute, aber das ließen sie sich doch nicht nachsagen, daß sie den Beerdigungsgästen kein Prassnik geboten hätten. Nun beeilten wir uns zuzusagen und uns zu entschuldigen, worauf sie sich zufrieden wieder ihrem Schafzuwandte.

Am nächsten Tag gelang es uns genau wie am Tage zuvor, frühzeitig vom Arbeitsplatz zu verschwinden. Am Bach wuschen wir uns und legten das am Vorabend noch frisch gewaschene, weiße Handtuch als Halstuch um. Noch bevor wir die Hütte erreicht hatten, sahen wir den seltsamen Trauerzug in die Dorfstraße einbiegen. Vorauf ging Tanja, ein junges Mädchen, und trug auf beiden vorgehaltenen Händen ein vielfach gefaltenes, schneeweißes Laken und darauf ein glänzendes - messingnes, russisches Doppelbalken-Kreuz. Sie war angetan mit einer weißen, gestickten Bluse und mit einem weißen Kopftuch. Ihre Füße staken in feinen Schaftstiefeln. Etwa 10 Meter hinter ihr kam ein Panjewagen, bespannt mit dem "Kamel". Auf dem Wagen stand der Sarg, vielfach umschlungen und verschnürt mit einem langen Seil, und auf dem Sarg saß Wurfka, ein etwa 12-jähriger Bengel, aussehend wie ein Gnom, aber ein Tausendsassa. Er kutschierte mit lautem Schimpfen, fürchterlichen Flüchen und mit Stockschlägen den alten Gaul. Hinter dem Sarg schritt eine Frau mittleren Alters, die sich in nichts von den anderen Frauen unterschied, die aber, wie ich später feststellte, eine Diakonin war. Sie betete halblaut vor sich hin und trug in den Händen ein großes Buch, das - wie wir auch später feststellten- ein Testament in altrussischer Kirchensprache war. Mit großem Abstand hinter der Diakonin folgte der Schwärm der Dorfweiber schnatternd und lachend. Alle in weißen Kopftüchern, schmucklosen Kleidern oder Blusen, einige wenige mit Schaftstiefeln, die meisten barfuß. Ein Mann, groß, hager, bärtig, uns unbekannt, ging am Ende des Weiberschwarmes. Ganz zuletzt, sicher 20 Schritt hinter den anderen, ging gesenkten Hauptes die Frau des Verstorbenen. Die Tochter Vera hatte zu Hause bleiben müssen, um den Prassnik vorzubereiten.

Nach kurzem Überlegen überholten wir den Trauerzug auf einem Seitenpfad, um am Grabe noch einmal nach dem Rechten zu sehen und noch 2 Knüppel über die Grube zu legen, um später den Sarg daraufstellen zu können. Bald näherte sich der Trauerzug, und als wir den wüst durchs Gelände schlingernden Panjewagen ankommen sahen, erkannten wir, wie gut es war, daß man den Sarg fest vertäut hatte. Der Schwarm der Trauergäste ging ans Grab und bewunderte gebührend laut, wie schön die Njemjetzki das Grab hergerichtet hatten. Ihrer überschwenglichen Bewunderung war zu entnehmen, daß hier eine schmucklosere Art des Begräbnisses üblich war. Auf ein kurzes "iditje", kommt her, der Diakonin traten alle folgsam um den Wagen. Man entknotete das Seil und nahm es ab. Danach wurde der nur in Nuten ruhende Deckel des Sarges abgenommen und beiseite gelegt. Ein weißes Laken bedeckte den Toten vom Kopf bis zum Fuß. Die still gewordene Trauergemeinde öffnete eine schmale Gasse, durch die die trauernde Witwe zum Kopfende des Sarges trat, das Laken etwas anhob und mit ihrem Kopf und Armen darunter verschwand. Am Zucken ihrer Schultern konnte man erkennen, daß sie still weinte. Sie nahm Abschied von ihrem Lebensgefährten.

Die Zeit des Abschiednehmens schien ihre vorgeschriebene Begrenzung zu haben, denn nach einer Weile trat eine kräftige, resolut aussehende Frau neben die Weinende, sagte unterdrückt aber doch energisch "nu ladno", nun ist es genug, und knuffte zur Bekräftigung die Witwe kräftig mit dem Ellenbogen in die Seite. Diese trat, die Tränen abwischend, still zurück. Die Resolute holte nun tief Luft, wobei sich ihr gewaltiger Busen sichtbar hob und begann in den höchsten und lautesten Tönen zu klagen, zujammern, zu schreien. Sie war das Klageweib. Sie war es mit einer derartigen Lautstärke, mit einer derartigen Hingabe, daß bald die ganze Trauergemeinde mitweinte, mitklagte, mitschrie. Über diesem Meer des Klagens war immer - wie eine Fanfare - die schrille Stimme des Klageweibes. Wir, Hansen und ich, waren zuerst erschrocken, dann wollte uns fast eine Belustigung ankommen, zuletzt aber waren wir ganz einfach auch ergriffen und gerührt von diesem elementaren Ausbruch des Klagens und des Jammerns.

So Unvermittelt, wie das allgemeine Klagen begonnen hatte, so unvermittelt endete es. Die Resolute verstummte, trocknete sich Schweiß und Tränen ab und trat zurück. Die klagenden Stimmen der Trauergäste fielen in sich zusammen. Man hörte noch hier und da ein Schluchzen, die Tränen wurden getrocknet, und es war wieder still.

Man bedeutete uns anzufassen, und zusammen mit einigen kräftigen Frauen hoben wir den offenen Sarg vom Wagen und stellten ihn vorsichtig auf die Stangen über dem offenen Grab. Das den Toten bedeckende Laken wurde abgenommen, und da lag er nun, der Ewig Verbannte. Er sah gut aus im Tode. Das wachsbleiche Antlitz war würdig und männlich anzusehen, der Bart war gekämmt. Die schöne, reichbestickte Rubaschka, das Russenhemd, reichte ein Stück über die saubere, dunkle Hose. Die Beine staken in schönen weichen, schwarzen Schaftstiefeln. Mit Rührung und Scheu standen wir alle vor der Majestät des Todes und dieses Toten. Langsam trat die Diakonin vor. Den starren Blick auf den Toten gerichtet, sprach sie monoton ein Gebet, ging dann zu Gesang über, verstummte, erhielt singend Antwort von der sich bekreuzigenden Trauergemeinde und betete wieder. Es wechselte Gebet, Gesang, Wechselgesang. Wir verstanden kein Wort, waren aber tiefergriffen von der inbrünstigen Andacht, die aus allen Gesichtern sprach. Zuletzt griff die Diakonin mit den Händen Erde und streute sie in den Sarg, indem sie feierlich die Worte sprach - wir rieten es mehr als daß wir es verstanden - : "Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du wieder werden..." Ein feierliches Gebet schloß die Andacht

Der Sargdeckel wurde aufgelegt und ein Seil oben und unten unter dem Sarg durchgezogen. Am Kopfende griffen Hansen und ich das Seil zu beiden Seiten, am Fußende taten der einzige Mann unter den Trauergästen und einjunges, kräftiges Weib dasselbe. Ich gab das Zeichen, wir hoben alle den Sarg an. Es war ausgemacht,daß Schura, ein kleines, kümmerliches, aber sehr flinkes Weiblein, am Fußendeu des Sarges den Knüppel darunter wegziehen sollte, am Kopfende wollte ich ihn einfach mit dem Fuß in die Grube stoßen. Der Erdaushub und das Gestrüpp ließen ein freies Herantreten am Kopfende nicht zu. Der Mann und das Weib am Fußende hatten sich etwas ungeschickt gerade vor den Knüppel gestellt, so daß Schura - auch behindert durch den Erdaushub - von der Seite nicht heranreichen konnte. Sie versuchte daher, ihr Werk vom schmalen Fußende her zu erledigen, kroch mit dem ganzen Oberkörper unter den Sarg, stützte sich mit der linken Hand auf den Rand der Grube und versuchte, mit der rechten den Knüppel zu greifen. Gerade als ihr das gelang, rutschte unter ihrer linken Hand die Erde weg, und sie plumpste samt Knüppel ins Grab. Das Weib am Seil sah plötzlich seitwärts ihres Fußes die Erde rutschen, trat erschrocken zurück und ließ das Seil los. Der Sarg polterte am Fußende herunter auf den Rücken der ins Grab gefallenen Schura. Hansen und ich hatten unseren Knüppel noch nicht weggestoßen. Wir setzten den Sarg wieder ab, im Augenblick genauso ratlos wie alle anderen. Nun begann Schura jammernd unter dem Sarg zu krabbeln und versuchte, ihn hochzudrücken. Dadurch begann er langsam in der von uns zu lang gemachten Grube nach dem Fußende herunterzurutschen, und weil Schura an der linken Seite hockte, verkantete er sich nach rechts. Ich sah den Augenblick kommen, in dem der Deckel vom Sarg fallen würde, und der Ewig Verbannte das Licht dieser Welt erneut erblicken würde und rutschte daher kurz entschlossen am Kopfende ins Grab, schob mich zwischen Seitenwand und Sarg, umfaßte den Sarg, schob mit der Schulter den Knüppel weg, der herunterfiel und zog unter Aufbietung aller Kräfte den Sarg über meine Hüfte zum Kopfende herauf. Die Schura wurde frei, hopste auf das Fußende des Sarges und aus dem Grab und klopfte sich unter dem Gelächter der Trauergemeinde den Lehm vom Rock. Ich stand derweil fest eingeklemmt, die Last des Sarges auf der Hüfte und ihn mit dem Arm festhaltend. Meine Bitte an Hansen, mir zu helfen und mich zu befreien, blieb ohne Antwort. Er konnte sich - wie sich später herausstellte - nicht entschließen, zu einem Toten ins Grab zu steigen. Die anderen Zuschauer grinsten alle, doch konnte sich auch von ihnen keiner entschließen, mir zu helfen. Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es mir schließlich, den Sarg an der Grabwand herunterholpern zu lassen und mich zu befreien. Als ich aufatmend wieder oben stand, sah ich nur fröhliche Gesichter. Man war sichtlich dankbar für das lustige Zwischenspiel, das Schura und ich geboten hatten.

Nachdem die allgemeine Heiterkeit sich gelegt hatte, segnete die Diakonin das Grab ein, warf dann einige Spaten voll Erde auf den Sarg, und indem sie den Spaten mit Schwung ins Erdreich stieß, sagte sie zu Hansen und mir gewandt, "nu lopatje", nun grabt ihn ein. Wir begannen, das Grab zuzuschaufeln, während sich die Trauergemeinde in Gruppen, munter plaudernd und über das Ereignis lachend, entfernte. Eine Frau blieb noch ziemlich lange bei uns stehen. Ob sie wohl den Auftrag hatte aufzupassen, daß wir nicht nach dem Weggang der Gemeinde dem Toten die Stiefel oder andere Bekleidungsstücke auszögen? Denkbar, bei dem ungeheuren Wert, den diese Dinge damals in Rußland hatten.

Wir machten uns viel Mühe, den Grabhügel recht schön zu machen und mit grünem Blattwerk abzudecken. Dann gingen wir zum Bach, machten uns prassnikfein und näherten uns erwartungsvoll dem Trauer-Fest-Hause. Lautes Gelächter und Stimmengewirr schollen uns entgegen. Als wir die Stube betraten, verstummte das Stimmengewirr. Es sah wüst aus. Auf den beiden aneinandergestellten Tischen bildeten Suppen- und Milchpfützen mit Brotkrumen, Gemüseresten, Knochen und Holzlöffeln ein russisches Stilleben. Auf einen herrischen Wink der trauernden Witwe hin erhoben sich die Gäste hastig von dem einen Tisch und drängten sich in der Ofenecke tuschelnd zusammen und betrachteten uns dabei mit einer gewissen Achtung. Vera, die dralle Tochter, ergriff einen Lappen und wischte mit einer schnellen Armbewegung alle Essensreste vom Tisch auf den Boden. Währenddessen kramte die Mutter in einer Schublade und holte zwei altersschwache Blechlöffel und Gabeln hervor. Das war offenbar das "Staatssilber". Mit einer fast demütig höflichen Geste bot sie uns die Ehrenplätze unter der Ikone in der Muttergottesecke mit dem ewigen Licht, dem kleinen Öllämpchen, an und legte vor uns die Löffel und Gabeln aus Metall. Wir waren sehr befangen ob der Ehre, die uns zuteil wurde. Ehrenplatz, gesäuberter Tisch, Metallbestecke (die andern Gäste hatten mit Holzlöffeln gegessen), sehr höfliches, fast devotes Gebahren uns gegenüber.Dabei waren wir doch Kriegsgefangene, sie redete uns aber mit "Gospoda Officere", Herren Offiziere, an. Die anderen Gäste betrachteten uns ehrfürchtig und wagten nur leise zu tuscheln. Wir waren offensichtlich die wirklichen Gäste dieser Feier und wurden gebührend feierlich behandelt. Die Witwe legte zwei halbe Brotlaibe zur Seite, holte einen neuen Laib hervor, schnitt den Anschnitt ab und legte dann Brot und Messer vor uns hin, Vera stellte mit einem leisen "pajalusta", bittesehr, ein Salznäpfchen dazu. Hansen schnitteine dicke Scheibe vom Brot, wir brachen jeder ein Stück davon ab, tupften es ins Salz und aßen es zum Zeichen der Freundschaft. Ein befriedigtes Gemurmel aus der Ofenecke bewies uns, daß wir richtig handelten. Nun wurde eine Schüssel vom Format einer normalen Waschschüssel voll Borschtsch, dem russischen Nationalgericht, das zum größten Teil aus Fleisch bestand, vor uns aufgebaut, und wir widmeten uns mit echtem Plenny-Hunger der Vertilgung des leckeren Gerichtes. Diese realistische Beschäftigung ließ das bisherige Interesse an uns sichtlich schwinden. Man unterhielt sich wieder, wenn auch gedämpften Tones. Eine der Frauen setzte sich zu uns an den Tisch. Es war die Diakonin, sie sah uns mit einem mütterlich-freundlichen Lächeln zu.

Einzelne Gäste verabschiedeten sich inzwischen wortreich voneinander und mit einem höflichen "Doswidanija", Aufwiedersehen, von uns. Das Klageweib wurde mit einem Säckchen Mehl und einem Topf Milch entlohnt und verabschiedet. Allmählich hatten wir nun auch den Boden unserer Schüssel Borschtsch erreicht und waren - da wir tüchtig Brot dazu gegessen hatten - sehr satt. Zu unserem großen Erstaunen wurde eine zweite, gleichgroße Schüssel mit einer Art Gemüsesalat, Gurken, Mohren, Kartoffeln, Kohl, mancherlei Krautern und viel saurer Sahne vor uns aufgebaut. Eine vorsichtige Kostprobe bewies uns, daß das Gericht sehr, sehr lecker war. Also holten wir tief Luft, ließen diesmal das Brot weg und gaben uns daran, die zweite Waschschüssel zu leeren. Es ging sehr viel langsamer als bei der ersten, aber wir schafften es, wenn wir auch am Ende etwas kurzatmig geworden waren. Als nun aber die Vera noch mit einem Sportplatz "Piroggen", hausbackenem Plattenkuchen, anrückte, wollte uns fast Verzweiflung anfallen. Solche Herrlichkeiten vor sich sehen und nicht essen können, sind für einen Plenny Tantalusqualen. Nun, nach dem Motto "besser der Bauch platzt, als daß die gute Kost verdirbt", zwangen wir auch noch den größten Teil des Kuchens. Die wenigen noch anwesenden Frauen hatten unsere großen Anstrengungen mit freundlichem, verständnisvollem Schmunzeln beobachtet Endlich lehnten wir uns schnaufend zurück und baten unsere Gastgeberin, rauchen zu dürfen. Sie nickte uns Gewährung, bat uns aber, etwas von der Muttergottesecke wegzurücken, was wir selbstverständlich sofort taten und unser Erstaunen darüber verbargen.

Bei der Verdauungspapirossi unterhielten wir uns mit der Diakonin. Sie zeigte uns ihr großes, altes Neues Testament und erkundigte sich eingehend nach den kirchlichen Verhältnissen in unserer Heimat

Als wir nach geraumer Weile Anstalten machten, uns zu verabschieden, fragte uns die Witwe, was sie uns für unsere Hilfe schuldig sei. Erstaunt und beschämt beteuerten wir, daß unsere geringe Hilfe überreichlich aufgewogen sei durch die großzügige Gastfreundschaft. Fast etwas erzürnt belehrte uns die Alte, daß Gastfreundschaft und Hilfe nichts miteinander zu tun hätten. Sie wollte uns entlohnen und ließ trotz unserer Ablehnung nicht davon ab, so daß wir schließlich, um sie nicht ernsthaft zu erzürnen, ein Säckchen Kartoffeln und einen großen Krug Milch annahmen.

Satt und zufrieden kamen wir in unser Quartier zurück. Wir hatten russische Gastfreundschaft kennengelernt und einen Blick in die gutmütige russische Volksseele getan.

Wenn ich mich recht entsinne, war ich 15 oder 16 Monate in Ogarkowo. Es war eine Zeit harter Arbeit, ständigen Hungers, aber auch unvergessener Erlebnisse.

Ende März 1946 gab es die ersten Rot-Kreuz-Karten zur Benachrichtigung unserer Angehörigen. Es waren Doppelkarten, eine für die Hinsendung, eine für die Antwort. Auf der jeweiligen Adress- bzw. Antwortkarte stand in kyrillischen Worten vorgeschrieben: Lager 7150 - Name - Vorname - Vatersname - Dienstgrad. Mein Kamerad Hoffer schrieb nun an seine Frau und die 4 Kinder in einem brandenburgischen Dorf:

Lager 7150 - Hoffer - Otto - Otto - Hauptmann - (und 25 Worte Mitteilung), sehr bald kam schon die Antwort

Adresse - Hoffer - Emma - Emma - Hausfrau - (und 25 Worte Text). Wir hatten für einige Wochen etwas zu lachen.

Noch eine liebe, kleine Geschichte:

Am Anfang des Dorfes Ogarkowo, gleich, wenn man aus dem Wald kam, wohnte in einem kleinen Holzhaus eine über 70 Jahre alte Dame. Sie konnte wenige Worte und Sätze deutsch sprechen. Sie und ihr Mann hatten in St Petersburg vor dem ersten Krieg ein Hotel besessen. Ihr Mann schickte sie 1917 zu Beginn der Revolutionsunruhen von St. Petersburg auf ihre Datscha in Ogarkowo. Die Dame hat nie wieder etwas von ihrem Mann gehört.

Wir nannten sie Babuschka Patrowna, sie nannte uns, meinen Freund Hansen und mich, Batuschki. Jeden Sonntagmorgen besuchten wir sie und aßen mit ihr Pellkartoffeln und eine Scheibe Brot als Frühstück. Wir erzählten uns dann etwas aus der Welt von früher, vom Zaren, vom Kaiser, von der Weltstadt St. Petersburg, in einem Gemisch aus deutsch und russisch.

Zwei junge Deutsche und eine alte Russin waren wie auf einer schönen Insel des Friedens und der Zuneigung in dieser wilden Welt.

Als ich einmal sagte: "Babuschka Patrowna, wenn ich wieder nach Hause komme, werde ich Ihnen ein Paket senden", antwortete sie: "Batuschki, versprich nichts, was Du nicht halten kannst." Eine kluge und sehr liebe Frau, die ich nicht vergessen habe.

So plötzlich, wie wir vor einem Jahr vom Lager nach Ogarkowo verlegt wurden, so unverhofft ging es im Januar 1947 zurück ins Lager. Es folgte der inzwischen bekannte Turnus: Banja, Entlausung, Kleiderwechsel, leichte Lagerarbeit.

In dieser Zeit schenkte mir ein Kamerad ein Heft zusammengebundener Birkenrindenblätter, auf die mit Bleistift die "Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke" geschrieben war. Eine unschätzbare Kostbarkeit, die mir bei einer der nächsten Filzungen abgenommen wurde.

Ein oder zwei Wochen später wieder Banja, danach zusätzliche Kleider. Walinki, Wattehose, Wattejacke, Schafwollmantel, Pelzmütze, Fäustlinge. Damit begann für mich Panowka. Wenn ich vorher gewußt hätte, was mir bevorstand, hätte ich Angst gehabt. Es begann eines der allerhärtesten aber auch der großartigsten Abenteuer meines nicht gerade abenteuerarmen Lebens.

Am Anfang war die geruhsame Bahnfahrt in die Rayon-Hauptstadt Wologda. Dann warteten wir auf dem Bahnhof auf den Zug Moskau - Wologda - Archangelsk. Die Soldaten des Begleitkommandos informierten uns, daß Panowka ein Haltepunkt sei, kein Bahnsteig, keine Station. Wir würden vom Trittbrett auf den Bahndamm springen müssen, der Zug halte nur eine Minute. Damit wir zum richtigen Zeitpunkt nach etwa 4 Stunden an der Abteiltür stünden, sollten wir die Mitreisenden um Hilfe bitten. Wir hatten keine Uhren, die waren uns längst abgenommen worden. Der Zug kam, wir verteilten uns auf mehrere Wagen, und ab ging die Reise. In meinem überfüllten Abteil hatte sofort ein Reisender die Armbinde - Kriegsgefangener- gesehen und laut verkündet "Woina Plenny" und danach die Frage "Deutscher?" Im überfüllten Abteil waren im Nu für uns Plätze frei.

Die Fahrt verlief recht kurzweilig. Die Mitreisenden waren, wie viele Russen, sehr begierig, viel aus dem Westen zu erfahren. Es waren auch zwei Männer dabei, die wußten, wo Panowka ist, so daß wir früh genug an der Tür standen. Aussteigen ging nicht, man mußte abspringen und sich gleich fallen lassen. Bevor man wieder auf den Beinen stand, rollte der Zug schon weiter.

Wir versammelten uns und schauten uns um. Die zweigleisige Strecke hatte hier, in der Fahrtrichtung Archangelsk, ein drittes, ein Rangiergleis. Neben dem Gleis in Richtung Wologda - Moskau war eine Lichtung, auf der zwei Baracken für Gefangene, eine kleinere Baracke für das Wachpersonal und die Küche, sowie ein bescheidenes Bahnwärterhäuschen und ein Schuppen standen. Zwei Bogenlampen und die sternklare Nacht erlaubten uns, die Schneelandschaft ausreichend zu betrachten. Ein kurzer Zählappell ergab, daß alle 45 Männer ausgestiegen waren. Hinzugekommene Wachsoldaten teilten uns in zwei Gruppen und führten uns in die beiden Baracken.

Am späten Abend schliefen die meisten Gefangenen schon. Bei trüber Beleuchtung standen einige um uns herum, begierig nach Neuigkeiten aus dem Lager. Wir erführen, daß wir der Ersatz waren für die gleiche Anzahl Kranker, Schwacher und Dystrophiker, die ins Lager und Lazarett zurückgeschickt worden waren. Der Leiter des Außenkommandos sei der russische Leutnant Jurin, ein älterer Herr, von dem erzählt wurde, er sei vor dem ersten Weltkrieg in München auf der Kriegsschule gewesen und verstünde deutsch, er sprach es aber nicht. Ein sehr toleranter Mann. Dann gab es noch einen korrekten Sergeanten und einige Soldaten.

Am nächsten Morgen wurden wir "Neuen" in Zwei-Mann-Arbeitsgemeinschaften, genannt Brigaden, eingeteilt. Jeder Mann bekam ein Beil, das man in einem Strick um den Leib trug und zu zweien eine lange Schrotsäge. Wir stapften über die Gleise auf dem Trampelpfad nach Osten durch den Wald. Auf einer kahl geschlagenen Lichtung zeigte man uns, in welcher Richtung jede Brigade in den Wald weiter fällen sollte.

Die Bäume sollten 15 cm über dem Boden abgesägt werden, das machte vorheriges Schneeschaufeln nötig. Dann mußten sie entästet, aufzwei Meter Länge gesägt und zu meßbaren Stapeln geschichtet werden. Besonders gut gewachsene Bäume, die als Masten geeignet waren, durften nicht zersägt werden. Die Äste wurden zum Verbrennen an einer Stelle zusammengetragen. Dadurch entstand eine Feuerstelle, die wir den ganzen Tag über unterhielten, abends noch mit Holzasche zudeckten, um am nächsten Morgen tief unter der Asche noch Glut zu finden für das nächste Feuer. Inzwischen lernten wir viel von den Kameraden, die 40 oder 60 Meter von uns entfernt arbeiteten und schon viel Erfahrung hatten.

Wir hatten Beil, Säge und jede Menge Holz. Damit kann man sich Sitzstangen um das Feuer machen. Schneeschaufeln, Keile, Meßstäbe, handliche Hebel usw., alles aus Holz.

Das Fällen großer Bäume, das Entästen, das Sägen von Zwei-Meter-Stämmen, das Tragen dieser schweren Stämme zum Stapeln, alles ist Schwerstarbeit. Aber man bekommt Erfahrung und lernt, wie man was am besten bewegt

Irgendwann im Winter, an einem sehr kalten Tag, so zwischen -20° und -30°, kam der Natschalnik (Vorgesetzter der Forstbehörde), wie üblich alle 6 Tage, zum Abnehmen des geschlagenen Holzes. Er fragte wie gewohnt: "Kak Brigade", ich antwortete "Hackenberg". Dann zählte er und schrieb die Kubikmeter auf, nörgelte etwas, weil ein paar Zentimeter an der Höhe fehlten, sagte dann "zeichnet es" und ging weiter. Wir mußten nun mit Holzkohle vom Feuer an den Schnittenden Striche machen als Beweis dafür, daß das Holz abgenommen war.

Es lag wohl an der Kälte und an der Sehnsucht nach der warmen Stube, daß der Natschalnik ohne zurückzublicken schnellen Schrittes verschwand. Wir hatten noch nicht abgezeichnet und "vergaßen" das jetzt auch. Es war doch ein schönes Gefühl, 6 Kubikmeter in Reserve zu haben bei einer täglichen Pflichtnorm von 5 Kubikmeter pro Person am Tag.

Am nächsten Morgen, sofort nach der Ankuft am Arbeitsplatz, begannen wir hastig, den Stapel abzutragen und etwa 30 Meter weiter wieder aufzubauen. Wir hofften, das in weniger als einer Stunde zu schaffen, bevor der Posten zum ersten Mal seinen Rundgang machte. Irrtum! Der eine Stapel war halb abgetragen, der andere halb aufgebaut und dazwischen ein Trampelpfad, da stand plötzlich der russische Sergeant, der Leiter des Wachkommandos vor uns. "Aha, Sabotage am Fünfjahresplan". Er forderte uns auf, zum Feuer zu kommen, setzte sich dazu, nahm sein Notizbuch, fragte und schrieb: Namen, Dienstgrad, Tatbestand. Wir wußten, was das bedeutete: Kriegsgericht, 25 Jahre Zwangsarbeit. Mein Arbeitskamerad, Leutnant Bartsch, fing an zu weinen. Ich begann zu schimpfen: 2,5 Jahre nach dem Krieg noch Zwangsarbeit, wenig zu essen, verwanzte Baracken, Schwerstarbeit bei großer Kälte, und was mir sonst noch einfiel. Alles warf ich ihm an den Kopf. Da unterbrach mich der Sergeant und sagte: "Das wäre dir alles nicht passiert, wenn du nicht nach Rußland gekommen wärst." Ich dagegen: "Hast du den Krieg angefangen?" Er entrüstet "Nein". Ich dagegen: "Ich auch nicht."

Er blickte eine Weile stumm ins Feuer, dann riß er das beschriebene Blatt aus dem Notizbuch und drehte sich damit eine Machorkazigarette. Ja, er riß noch 2 Blätter für uns heraus und gab uns auch Machorka. Dann verschwand er wortlos und wir trugen das Holz auf den alten Stapel zurück und arbeiteten hastig, um trotzdem die Norm zu erfüllen. Ich weiß nicht, ob der Sergeant noch lebt. Er ist mein Freund. Von Zeit zu Zeit, wenn viele Stapel angesammelt waren, wurden an einem Tag alle angesammelten Vorräte mit der vorhandenen Schmalspurbahn zur Bahnstation gefahren und längs der Schienen gestapelt. Wenn dann eines Tages ein Leerzug auf dem Rangiergleis abgestellt wurde, mußten wir in pausenloser Arbeit die Güterwagen beladen.

In den Monaten Juni - Juli - August plagten uns Milliarden Mücken und Fliegen. Der Frühling, von Ende April bis Anfang Juni, war die schönste Zeit in Panowka. Im März waren öfter Bärenfährten um unsere Feuerstellen. Ich habe aber nie einen Bären gesehen. Kameraden berichteten aber mehrfach von Begegnungen.

An einem Tag im Juli, auf dem Heimweg von der Arbeit, Beeren suchend, hörte ich ein starkes Motorengeräusch. Ich ging in der Richtung weiter, das Geräusch wurde stärker, dann stand ich plötzlich vor einem gewilderten Elchkadaver, dem eine Keule fehlte, und um und auf dem Milliarden Brummfliegen die Geräuscherzeuger waren. Ich lief ins Lager, sprach mit einem Kameraden, schüttelte das Stroh aus meinem Kopfkissenbezug, und wir rannten in den Wald zurück.

Unter Qualen durch angreifende Brummer schlugen wir mit dem Beil ein riesiges Stück Fleisch aus dem Kadaver, rein in den Kopfkissenbezug, verfolgt von Fliegen brachten wir das sich verfärbende Fleisch ins Lager. Kameraden halfen, eine 3-5 cm dicke, verfärbte Schicht abzuschälen. Andere hatten schon Kaliumpermanganat vom Sanitäter geholt. Das Fleisch, in Brocken geschnitten, wurde mit Kaliumpermanganat im Eimer gekocht und anschließend von den Umstehenden verschlungen. Es ist keiner gestorben. Wir kochten auch Brennesseln und aßen sie.

Im August/September verzehrten wir eimerweise Pilze, roh und gekocht. Daß keiner von uns umgekommen ist, ist eines der vielen Wunder, die ich in Krieg und Gefangenschaft erlebt habe.

Ich war nie ein Muskelprotz, aber ich bin zäh. Als ich bei meiner Größe von 174 cm nur noch 48 kg wog, schickten sie mich von Panowka ins Lager Grjassowez zurück. Im Juli 1948 ging es auf Heimtransport.

Im Mai 1995 trieb mich die Sehnsucht wieder nach Wologda.

Kategorie: Erinnerungen von Kriegsgefangenen | Hinzugefügt von: Anatoli
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