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Isaak Podolny: Es war die Musik ...
03.06.2013, 14:35

Der Ausdruck "Das Buch des Lebens" ist schon längst ein Klischee, aber solche Bücher haben die Menschen schon immer geschrieben und werden sie auch künftig noch schreiben. Und für jedes dieser Bücher werden immer passende Illustrationen gesucht und sehr oft auch gefunden.

Zum Erinnerungskapitel an die schweren Nachkriegsjahre meiner Jugend könnte als Illustration die Musik dienen. In diesem Kapitel möchte ich von meinen Begegnungen mit deutschen Kriegsgefangenen in unserer nord-russischen Stadt Wologda erzählen.

Diese Begegnungen haben eine unauslöschliche Spur nicht nur in meinem Gedächtnis, sondern auch im Bewußtsein meiner Generation hinterlassen. Die Gefangenen erschienen bei uns kurz vor Kriegsende und sogleich nach dem 8. Mai 1945. Die mehrköpfigen Kolonnen von Gefangenen wurden zuerst durch Moskaus Straßen und über Moskaus Plätze geführt, danach in die Eisenbahnwagen verstaut und in die russischen Lager befördert. Vom Bahnhof marschierten die Gefangenen in Reih und Glied durch die Stadt, akkurat rasiert, mit dem Wollen, ihre menschliche Würde zu zeigen und zu bewahren. Man sang melodische deutsche Lieder. Bei einem der Gefangenen sah ich zum erstenmal eine Mundharmonika und war überrascht.

Wieviel Klänge konnte man diesem einfachen Musikinstrument entlocken! Und überall schritt mit düsteren Blicken die vielköpfige Wache in den Uniformen der NKWD.

Schon am nächsten Morgen begann die alltägliche schwere Arbeit. Die Gefangenen entluden Lastkräne mit Baumstämmen am Ufer des Flusses, mit Handsägen zersägten sie die starken nassen Stämme zu Brettern. Zuerst bauten sie Kasernen für sich als Zuhause, danach wurden sie auf allen Baustellen der Stadt eingesetzt.

Nicht lange marschierten die Gefangenen, ihre Lieder verstummten, die Kleider wurden bald abgetragen ...

Bald verschwand auch die Wache: Alte Frauen aus den Wohnverwaltungen begleiteten die schmutzigen Gefangenen in ihren schäbigen Kleidern zur Arbeit, sie setzten für die Gefangenen ihre Unterschriften in irgendwelche Listen, gleichsam als wären diese Kaserneneigentum.

Damals war das Leben für alle schwer. Ich erinnere mich an Verse auf der Tischplatte eines Zuhörerraumes:

Auf den Hunger bin ich nicht böse,
Wenn ich auch drei Tage nicht gegessen habe:
Jemand hat doch in der Welt,
Statt meiner gespeist.

Mehrere Jahre später im Gespräch mit dem Dichter S. Orlow, der aus dem Krieg mit einer schweren Verletzung heimgekehrt war, habe ich erfahren, daß er diese bitter-witzigen Zeilen verfaßt hatte, als er an der pädagogischen Hochschule in Wologda studierte. Selbstverständlich ging es den Gefangenen damals durchaus nicht besser als den Siegern. Die Gefangenen erlernten alle denkbaren und undenkbaren Bauberufe. Die Lage war manchmal paradox: Die Gefangenen suchten selbst Nebenverdienste. So kamen einmal zwei ältere Deutsche zu unserem Schuldirektor und erklärten sich bereit, die Aulawände zu bemalen. Da die Schule kein Geld hatte, um die Arbeit zu bezahlen, wurde vereinbart, daß die Schule für die Arbeit mit Mittagessen und Abendbrot und je einem Brot pro Tag zahlen würde. Eine lange Zeit schmückten die bescheidenen Fresken dieser Nichtberufsmaler die Wände des Schulsaals.

Im Hochsommer des Jahres 1946 sah ich die Gefangenen aus einer neuen Sicht. Einmal versammelten sich in unserem Haus meine Schulkameraden und baten meine Mutter, Musiklehrerin, etwas zu musizieren. Es erklangen zu jener Zeit die bekannten Melodien: die Walzer von Strauß, die Polonaise von Oginski, die Akkorde des ersten Klavierkonzerts von Tschaikowsky. Unsere Wohnung lag im Erdgeschoß, und plötzlich vernahm ich ein Geräusch vor dem Fenster. Draußen stand ein Gefangener, mit schüchternem Lächeln hörte er die Musik. Wir luden ihn ein, und mit unseren bescheidenen Deutschkenntnissen bekamen wir heraus, daß der junge Mann Student des Berliner Konservatoriums gewesen war, ein Klavierspieler und Sieger irgendwelcher Musikwettbewerbe. Seine Hände waren mit Lehm und Kalk bedeckt.

Bevor er ans Klavier ging, wusch er sie umständlich mit Bimsstein. Lange Zeit brauchte er, um seine Hände vom Schoß auf die Klaviertasten zu bringen. Und als er das endlich geschafft hatte, kamen ihm die Tränen aus den Augen... Etwas unklar erklärte er uns, daß er kein Nazi gewesen sei, er habe an Kämpfen nicht teilgenommen, während des ganzen Krieges war er freigestellt und wurde erst einen Monat vor Kriegsende eingezogen. Die gerührte Mutter gab ihm etwas zu Essen.

Am nächsten Tag kam der Junge wieder und spielte mehr als eine Stunde. Das alte Klavier der deutschen Firma "Mühlbach" hatte zum ersten Mal in den letzten Jahren die energiegeladenen Klänge der Wagnerschen Musik von sich gegeben. Es kam noch Bach und Beethoven ... Aber die meisten Melodien wurden mitten in den komplizierten Passagen unterbrochen, die Finger gehorchten ihm nicht. Bald war das Gesicht hell, bald rannen die Tränen über seine Wangen. Auch Nachbarn der naheliegenden Häuser hörten dem Pianisten zu.

Diese Konzerte wiederholten sich über eine längere Zeit. Einmal kamen mit dem deutschen Jungen noch zwei Gefangene. Ein großer Rothaariger hörte, ohne ein Wort zu sprechen, mit undurchdringlichem Gesicht zu. Beim Verlassen des Hauses murmelte er unzufrieden etwas durch die Zähne. Am nächsten Tag kam "unser" Deutscher mit einer Entschuldigung und sagte, daß der Rothaarige ein Nazi sei und daß er sehr unzufrieden war, daß man ihn in eine jüdische Familie gebracht habe.

"Den Raben wäscht kein Bad", sagte die Mutter und verpflichtete mich, weitere Besuche der Deutschen in unserem Hause zu untersagen. Man muß die Mutter verstehen: Ihre älteste Schwester, Sängerin der Rigaer Oper, war mit ihrer Familie im KZ Salaspilz ums Leben gekommen.

Für das Schicksal des jungen deutschen Klavierspielers hatte meine Mutter auch später einige Bedeutung. An sie wandte sich ein Wologdaer Militär hohen Ranges mit der Bitte, für seine Tochter einen Musiklehrer zu finden. Man brauchte nicht lange zu suchen. "Unter den Gefangenen gibt es einen glänzenden Klavierspieler und kaum findet man einen besseren Pädagogen in Wologda", sagte meine Mutter. Später erfuhren wir, daß das Mädchen etwa ein Jahr lang von dem deutschen Pianisten im Klavierspielen unterrichtet worden war und dabei gute Fortschritte gemacht hatte. Es scheint mir, daß diese Arbeit dem jungen deutschen Musiker viel besser gefallen hat, als die des Maurers und des Stuckarbeiters. Manchmal begegnete ich ihm in der Stadt, akkurat gekleidet und mit höflichem Lächeln. "Unser" Deutsche ahnte wohl kaum, wer ihn in seinen schweren Lebenstagen begünstigte.

Das Bild des "Deutschfeindes" hat sich nur allmählich und nicht bei allen im Bewußtsein des Volkes verwischt. In meiner Erinnerung ist der Tanzplatz auf dem Stadion "Dynamo". Hier spielte ein Blasorchester die Walzermelodien "Amurwellen", "Donauwellen", "Auf den Bergkuppen von Madjurien", der Tango "Die Spritzer des Sektes", der Foxtrott "Rio-Rita" schwebten lange in der Abendluft der Stadt.

Aber im Sommer 1947 kam etwas Neues: Es begann ein Orchester zu musizieren, das man nach heutigen Maßstäben als Synfojazz bezeichnen konnte. Wunderschön klangen neue Melodien, unter ihnen die deutsche "Rosamunde", die bezaubernden Rhythmen der "Serenade des Sonnentals". Die Jugend kam von anderen Tanzplätzen zum Tanzplatz des Stadions. Man sagte, daß unter den Gefangenen fast das ganze Orchester des Berliner Rundfunks war, das auf Hitlers Befehl noch am Vorabend der Niederlage unter die totale Mobilmachung fiel. Und dieses Orchester war in Wologda.

Bald jedoch kamen auf den Tanzplatz unsere Bläser: Es hatten sich Leute gefunden, die sich schriftlich beschwert hatten, es gehöre sich nicht, daß die sowjetische Jugend nach deutschen Klängen tanze.

Natürlich gab es unter den Gefangenen auch überzeugte Nazis wie den Rothaarigen, der zu uns mit dem Pianisten kam. Es ist mir in Erinnerung geblieben, wie einem russischen Jungen eine deutsche Offizierstaschenlampe in die Hände gefallen war. Diese Taschenlampe hatte ihm sein Vater, der in der Wache des Lagers diente, mitgebracht. Als die Batterien verbraucht waren, entnahmen wir sie dem Gehäuse und entdeckten am Boden ein kleines Hitlerporträt, in dünnes Papier eingehüllt. Der Glaube an den Führer saß doch in einigen Schädeln auch nach dem Krieg fest.

Auf das Porträt haben die Jungen geschossen! Ja, ja geschossen! Einer der Jungen hatte ein Kleinkalibergewehr. Wir gingen zusammen in den Wald außerhalb der Stadt und Schossen solange auf das Porträt, bis von ihm nur Fetzen blieben. Wahrscheinlich wollten wir beweisen, daß unser Haß gegen den Führer, der unserem Hause unzählige Leiden gebracht hatte, stärker war, als die Treue von jemanden zu ihm.

Als wir meinem Vater über das "Erschießen" erzählten, fragte er nach kurzem Überlegen: "Nur eine Frage. Hättet ihr auch auf Hitler geschossen und nicht nur auf sein Porträt?" "Sicher", riefen wir im Chor. "Gut, aber wenn vor euch nicht das Porträt, sondern der Porträtmaler oder der Besitzer des Porträts stünde, könntet ihr auf sie schießen?" Auf eine solche Frage waren wir nicht vorbereitet und gaben keine Antwort.

Der Vater stellte diese Frage und verließ langsam das Zimmer. Mein bester Freund sprach nach längerem Schweigen mit offener Bewunderung: "Das heißt Advokat zu sein! Nur eine Frage!"

Schade, daß meine Generation über viele Fragen erst viel später nachgedacht hat, als es nötig gewesen wäre... Wie schade, daß die Parteihymnen mitunter lauter klangen als die Musik von Tschaikowsky und Bach!


Altprorektor der Pädagogischen Universität Vologda, Prof. Isaak Podolny

Übersetzung aus dem Russischen durch Dr. Hermann Hammermeister

Kategorie: Erinnerungen von Kriegsgefangenen | Hinzugefügt von: Anatoli
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