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Ernst Kausel: Meine Erlebnisse in der Gefangenschaft (Teil 1)
01.06.2013, 13:00

Inhaltsverzeichnis

Abfahrt in das Lager Grjasowez

Das Lager Nr. 7150

Die Lagerleitung

Das Lager und seine Belegung

Lagerbetriebe und Arbeitseinsätze

Die Lagerbibliothek

Kulturelle Tätigkeit im Lager

Das Klima in der Taiga

Die Lageruniversität

Gottesdienst



Abfahrt in das Lager Grjasowez

Vom langen Marsch durch Moskau ermüdet, legten wir uns auf den ergatterten Plätzen nieder und ließen die Ereignisse, die während des Marsches auf uns eindrangen, nochmals vor unseren Augen im Geiste vorüber ziehen. Wir richteten uns auf eine längere Wartezeit ein bis die 60.000 Gefangenen verladen und die Lokomotiven fahrbereit gemacht sind. Da haben wir aber die Russen unterschätzt. Es verging keine halbe Stunde, bis sich unser Zug in Bewegung setzte. Die Verladung der Gefangenen und die Abfertigung der Züge nach den einzelnen in Rußland verteilten Lagern ist nicht nur generalstabsmäßig geplant, sondern auch mit einer Präzision ausgeführt worden was allgemeine Bewunderung hervorrief. Der nächste Gedanke konzentrierte sich auf die Frage, wohin unsere Fahrt führt. Daß wir nun in ein endgültiges Lager kamen stand wohl außer Zweifel. Wo aber war dieses Lager? Mit Beklemmung dachten wir zuerst an Sibirien. Waren uns doch noch Berichte aus dem ersten Weltkrieg über Gefangene in Erinnerung, die lange Zeit ihres Lebens in den Weiten Sibiriens, abgeschnitten von der Welt, fristeten. So verfolgten wir mit Spannung die Richtung, in die unser Zug fuhr. Nur nach dem Stand der Sonne konnten wir uns orientieren. Mit Erleichterung stellten wir fest, daß es jedenfalls nicht nach Osten ging. Je länger wir fuhren, desto mehr kristallisierte sich heraus, daß es nach Norden ging. Die folgende Nacht haben wir in dem ratternden Zug relativ gut schlafend verbracht. Am späten Vormittag des folgenden Tages endete unsere Fahrt in einem verschlafenen Bahnhof. Etwas außerhalb desselben verließen wir unseren Waggon und plazierten uns auf eine Wiese, wo wir die erste Verpflegung erhielten. Wir wußten nicht, wo wir uns befanden, stellten jedoch fest, daß es eine ruhige, liebliche Gegend war, die sich in dieser Jahreszeit, es war der 18.Juli 1944, bei warmen, sonnigen Wetter, sommerlich präsentierte. Wir mußten dann noch einige Kilometer marschieren, um unser Lager zu erreichen. Bis wir in unsere Baracke eingewiesen wurden, mußten wir noch langwierige Prozeduren über uns ergehen lassen. Wir wurde durch ein großes Tor geleitet, waren jedoch vom Inneren des Lagers noch durch ein weiteres Tor getrennt. Zwischen den Toren erfolgte die Übergabe. Wir wurden x-mal gezählt, namentlich nochmals registriert, bevor wir dann einzeln ins Lager eingelassen wurden. Es waren 3 Baracken für uns vorbereitet, die sogenannten Quarantänebaracken. Diese waren mit Stacheldraht umzäunt und so von den anderen, bereits im Lager befindlichen früheren Gefangenen, getrennt. 3 Wochen mußten wir darin verbringen bis wir endlich in das Lager zu den anderen hineingelassen wurden. Die Baracke, in die wir kamen war aus Holz gezimmert. Innen waren durchgehend Holzpritschen an beiden Seiten und dazwischen verblieb ein langer Gang in der Mitte. Den konnten wir benutzen, um zu unseren Liegeplätzen zu gelangen. Die ersten Tage in der Baracke waren natürlich sehr aufregend. Alle waren wir in Erwartung, was nun mit uns geschähe. In den ersten Tagen tat sich gar nichts. Wir erhielten regelmäßig unsere Verpflegung. In der früh die üblichen 400 gr Schwarz- und 200 gr Weißbrot, Butter und Zucker. Mittags Suppe und Kascha und abends Suppe. Das Essen war in der Quarantänebaracke etwas besser, d.h. etwas reichhaltiger als das der anderen im Lager. Man hatte das Gefühl, daß sich die Russen Mühe mit uns machten. Jeder wurde untersucht und erhielt notfalls ärztliche Betreuung. Nach den ersten Ruhetagen begannen die Russen mit den Vernehmungen. Einer nach dem anderen mußte in die russische Lagerleitung kommen und wurde dort von einem Politruk verhört. Auch ich kam eines Tages dran. Obwohl ich kein schlechtes Gewissen hatte, ging ich mit Herzklopfen in die Kommandatura. Ein Offizier empfing mich höflich, bot mir Platz an und begann sich mit mir zu unterhalten. Nachdem er meine Personalien abgefragt hatte wollte er etwas von meinem persönlichen Leben wissen. Ich erzählte ihm von meiner freiwilligen Meldung zum Militär, da ich als Mittelschüler der 8 Klasse dadurch die Möglichkeit hatte, die Matura zu umgehen und eine Maturaklausel zu bekommen. Als Maturant wurde ich automatisch als Kriegsoffiziersbewerber, wie dies damals geheißen hat, eingestuft. Ich hatte nichts dagegen, da ich dadurch rascher den Klauen der oft unangenehmen Unteroffiziere entkommen konnte. Daß ich nicht bei der Partei war konnte ich durch meine Jugend glaubhaft machen. Er wollte noch von mir hören, wie der Einmarsch der Deutschen Truppen 1938 in Wien war und was sich am Heldenplatz abgespielt hat. Ich habe ihm offen von der Begeisterung, die damals in Wien herrschte, erzählt. Er war scheinbar von meiner Offenherzigkeit beeindruckt, denn ich wurde nie mehr zu einer Vernehmung geholt. Für die Russen hatte ich Gott sei Dank eine weiße Weste und war politisch uninteressant. Auch meine Einheit, bei der ich war, hatte nichts unrechtes getan, so daß ich auch diesbezüglich in Ruhe gelassen wurde. Es hat sich nämlich gezeigt, daß auch alle Angehörigen einer Einheit, die sich irgendwelcher Verbrechen zu Schulden hat kommen lassen, lange Haftstrafen erhalten haben auch wenn sie an derartigen Verbrechen nicht beteiligt waren oder nicht einmal etwas gewußt hatten.


Das Lager Nr. 7150

Das Lager liegt etwa 5 km südlich der Stadt Grjasowez an der Bahnlinie von Moskau nach Archangelsk und etwa 40 Km südlich der Gebietshauptstadt Wologda. Es wurde im Spätsommer 1943 auf dem Gelände des ehemaligen Kornilowklosters, das in der Oktoberrevolution zerstört wurde, errichtet. Es befand sich in landschaftlich reizvoller Lage inmitten von Feldern, Wiesen und riesigen Wäldern, etwa am Südrand des europäischen Nadelwaldgürtels, der sogenannten Taiga. Durch das Lager floß ein Bach, die Nurma, die noch zum Stromgebiet der Wolga gehört. Sie führte klares Wasser und da sie aufgestaut war, konnte man darin auch gut schwimmen. Vor der Brücke, über die die Lagerstraße führte, waren mächtige Eisbrecher, die sich im Frühling bei der Eisschmelze als sehr wirksam erwiesen hatten. Die Nurma durchquerte das Lager ungefähr in der Mitte des von Ost nach West langgestreckten Areals. Eine Lagerstraße führte von Ost, wo sich das Lagertor befand, über die Nurmabrücke bis nach West, wo ein "Steinhaus", ein Überrest des Klosters, stand. In diesem war bis 1945 die Küche und die Stolowaja, der Speisesaal, untergebracht. Dahinter waren einige Ruinen, worin sich in einer der Karzer befand. Dieser war sehr berüchtigt, da in diesen oft Gefangene nach erfolgter Vernehmung bei reduzierter Kost manchmal mehrere Tage eingesperrt wurden. In der Nähe des Steinhauses war eine ehemalige Friedhofskapelle, die als "Banja", als Badehaus, benützt wurde. Hier war wahrscheinlich früher der Klosterfriedhof. Darauf ließen die bei Aufgrabungen öfters gefundenen menschlichen Schädel und Skeletteile schließen. Wenn man vom Steinhaus nach Osten in Richtung Haupttor ging, kam man noch vor der Nurmabrücke rechts, also südlich der Lagerstraße, zur Töpferei und Wäscherei. Anschließend war in einer kleinen Baracke die Schusterei untergebracht. Nach überschreiten der Nurmabrücke kam man nördlich der Lagerstraße zu drei ehemaligen Unterkunftsgebäuden des Klosters, die sich inmitten von Birken und Kiefern befanden. Dort war die deutsche Lagerleitung und die Bibliothek. Außerdem wurden die Gebäude als Unterkunft und als Antifa-Zentrum (Zentrale des Antifaschistischen Büros) benutzt. Am gegenüberliegenden Ufer war ein kleines Birkenwäldchen, wo man sich nach einem Bad im Bach ausruhen und entspannen konnte. Die Nurma war ja so aufgestaut, daß man in ihr richtig schwimmen konnte. Es fanden später auch Schwimmwettkämpfe statt. Gegenüber der deutschen Lagerleitung befand sich eine Wiese, aus der im Frühling Trollblumen und Wollgras blühten. Auf dieser Wiese machten die Sportler unter uns bei entsprechendem Wetter Frühsport unter der Leitung eines Sportlehrers. Anschließend stürzten wir in die Nurma und machten unsere Morgenwäsche.

Weiter noch Ost begannen die Unterkunftsbaracken. Zwei auf der Südseite der Lagerstraße und zwei größere und zwei kleinere auf der Nordseite. Dann kam der sogenannt "Klub", ein großer Saal für "Massenkulturarbeit". Dort fanden Dichterlesungen statt, wurden Filme gezeigt, Theater gespielt, so Politveranstaltungen durchgeführt. An den Theateraufführungen nahmen oft auch die Russen mit ihren Frauen teil.

Dem Klub anschließend, kurz vor dem Haupttor, war das Lazarett, ein Holzhaus in altem russischem Stil. Gegenüber von Klub und Lazarett befand sich mit eigenem Zugang und eingezäunt mit Stacheldraht das Gebäude der "Uprawlennija", der russischen Lagerleitung.

In unmittelbarer Nähe des Lagers entspringt eine Mineralquelle, aus welcher das Lager mit Wasser versorgt wurde, und zwar in der Form, daß ständig Wasserfahrer das Wasser in hölzernen Tonnen auf ihren Pferdewagen, gezogen von den niedlichen Panjepferchen ins Lager brachten. Panjepferde sind eine kleine aber zähe Rasse, die in dieser Gegend zu den verschiedensten Arbeiten herangezogen werden. Das Wasser war allerdings sehr eisenhaltig, so daß in den Behältern ein rotbrauner Schlamm (Raseneisenerz) verblieb. Die Umgebung der Quelle ist mit Raseneisenerz bedeckt und es riecht hier stark nach Schwefelwasserstoff. Zum Trinken war das Wasser daher nicht gut geeignet.


Die Lagerleitung

Der Kommandant des Lagers war Oberst SYRMA. Er war ein alter Kosakenoffizier und stammte aus dem Dongebiet. Die Zarenzeit hat er noch als Fähnrich erlebt. In den Wirren der Revolution ist er zur Roten Armee gestoßen. Sein Stellvertreter war Oberstleutnant BORISOWEZ; ein Bjelorusse aus Minsk, von Beruf Mathematiklehrer. Es gab noch viele andere Offiziere, wovon jeder für ein anderes Aufgabengebiet zuständig war. Einer war Zahlmeister, ein anderer zuständig für den Arbeitseinsatz, einer für Bekleidung und Wäsche. Der Tagesdienst lag in den Händen mehrerer Offiziere. Wichtig für die Russen war natürlich die Politabteilung. In der waren die Politruks der Kriegsgefangenen tätig.

Unser Politbetreuer war Hauptmann Josef KLINGBEIL, ein deutscher Emigrant. Er stammte aus Berlin, war von Beruf Artist. Er spielte ausgezeichnet Xylophon. Seit seiner Jugend war er Kommunist und ist nach dem Aufstand in Mitteldeutschland 1921/1922 in die Sowjetunion geflüchtet. Im Lager trug er eine russische Hauptmannsuniform. Er war ein hochanständiger Mensch, sehr beliebt und für uns Gefangenen von große Bedeutung: Man hat ihm angemerkt, daß er glücklich war mit seinem Auftrag, die deutschen Offizieren zu betreuen. Er tat sehr viel für sie, vor allem auf kulturellem Gebiet.

Josef Klingbeil kehrte1948 in seine Heimat zurück und wirkte mit beim Aufbau der DDR. Er war ein ehrlicher Kommunist. Ein Idealist, der an das Gute im Menschen glaubte. Er hat sehr viel für seine "Woina Plennis", seine Kriegsgefangenen, getan. Zuletzt war er Rentner und in einem SED Altenheim in Berlin Politbetreuer. Mit den ehemaligen Kriegsgefangenen hielt er stets guten Kontakt, auch mit einigen in Westdeutschland. Er starb 1968. Bei seiner Beerdigung waren zahlreich ehemalige deutsche Kriegsgefangenen des Lagers Grjasowetz dabei, die auch Grenze spendeten. Von Klingbeil haben die ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen, die mit ihm Kontakt gehalten haben, erfahren, daß Oberst Syrma Ende der 40er Jahre in den Ruhestand getreten und in seine Heimat ins Don-Gebiet zurückgekehrt sein soll. Dort ist er in den 60er Jahren gestorben.

Es gab auch eine NKWD-Politabteilung, der verschiedene Vernehmungsoffiziere angehörten. Einer war besonders berüchtigt, da er bei Vernehmungen häufig Foltermethoden anwendete.

Die Sanitätsabteilung leitete Majorarzt TSCHESNOKOW; Ein gutmütiger und liebenswürdiger Russe. Ihm unterstellt war eine Ärztin im Hauptmannsrang, eine Oberärztin, eine Ärztin und eine Reihe Krankenschwestern. Die stets fröhliche Kapitolina PUSCHMJENKOWA mit dem Spitznamen Vitaminchen, die hübsche, unnahbare Tolja, genannt "Madonna von Leningrad", die Laborhelferin Zinaida, die Karelierin Saima, die rundliche Anja mit Spitznamen "die Zarin" und der "Badeengel" Walja.

Für die Belange der Deutschen innerhalb des Lagers hatte Oberst Syrma eine deutsche Lagerleitung eingesetzt. Dies war für ein geordnetes Leben im Lager verantwortlich. Zum Lagerältesten wurde Kriegsgerichtsrat Schumann ernannt. Er war ein feiner, sympathischer Mann, zu dem man Vertrauen hatte. Er wurde später Oberster Richter in der DDR und die rechte Hand von "Hilde Benjamin", der sogenannten "roten Hilde". Er war an der Neufassung des Strafgesetzbuches der DDR wesentlich beteiligt. Im Lager war jedoch von der DDR noch keine Rede und er wurde von allen akzeptiert.


Das Lager und seine Belegung

Im August 1943 kamen zuerst Mannschaften in das Lager. Hauptsächlich Deutsche, aber auch Rumänen, Ungarn und etwa 50 Spanier. Die ersten Offiziere kamen Ende Oktober 1943. Weitere Zugänge erfolgten im Dezember desselben Jahres. Im März 1944 kamen kleine Gruppen von Offizieren, die im Laufe der Kampfhandlungen in Gefangenschaft gerieten. Das Gros kam nach dem Zusammenbruch der Mittelfront im Juli und August 1944. Da war auch ich dabei.. Dann war das Lager mit etwa 4000 Mann belegt, vom Grenadier bis zum Oberst. Die Mannschaftsdienstgrade wurden allmählich nach Tscherepowez verlegt. Das war das Zentrallager dieser Region. Als ich am 18. Juli 1944 ins Lager nach Gjasowez kam, waren von den Mannschaften noch Reste von Deutschen, Ungarn und Rumänen vorhanden. Die Spanier wurden bereits Anfang 1944 nach Tscherepowez verlegt. Bei einem Arbeitskommando habe ich mich mit 2 Ungarn angefreundet. Sie hießen Janos (Hans) und Lejos (Ludwig). Das sie nicht deutsch sprachen und ich nicht ungarisch war kein Problem. Wir konnten uns in russisch sehr gut verständigen, obwohl wir diese Sprache nur mangelhaft beherrschten. Aber wir hatten denselben Wortschatz. Der Sprachschatz der Gefangenen bewegte sich ungefähr auf der gleichen Ebene. Die rumänischen Landser hatten wir in unguter Erinnerung. Von ihnen hielt man sich am besten fern. Diebstahl war noch das geringste Delikt, was bei ihnen vorkam. Wir waren froh, als sie aus dem Lager abtransportiert wurden.

Neuankömmlinge kamen zunächst in Quarantäne, die etwas 3 Wochen dauerte. Bei Fällen von Flecktyphus und Ruhr wurde die Quarantäne verlängert. Die endgültige bakteriologische Untersuchung nahm das epidemologische Institut in Wologda vor. Die Analysen waren sehr zuverlässig. Einmal wurde im Jahre 1945 von einem Außenkommande Flecktyphus eingeschleppt. Darauf wurde sofort das Außenkommando zurückgerufen und allen Lagerinsassen wurden die Köpfe kahl geschoren. Außerdem wurden die Achsel- und Schamhaare abrasiert und jeder mußte in die Banja. Die Banja war der Waschraum. Dort war ein großer Kessel, der vor jedem Bad mit Wasser gefüllt, und angeheizt wurde. Jeder bekam eine Waschschüssel, schöpfte sich heißes Wasser aus dem Kessel, suchte sich einen Platz und begann seinen Körper abzuwaschen. Bei jedem Baden mußte die Wäsche entlaust werden. Auf Grund dieser Maßname kamen Läuse nur höchst selten vor. Dafür wurden wir um so mehr von Wanzen gequält. Vor allem diejenigen, die im alten Klostergebäude untergebracht waren. Die gesamte Lagerbelegschaft wurde dreimal im Jahr mit einer Mischvakzine gegen Typhus, Paratyphus, Ruhr und Cholera geimpft. Die Impfungen wurden von russischen Ärzten zwischen den Schulterblättern durchgeführt.. Die Russen betonten uns gegenüber oft mit einem Unterton von Stolz, daß sie zwar nicht Mitglied des Internationalen Roten Kreuzes und roten Halbmonds sind, aber sich strikt nach deren Satzungen halten. So wurden wir Offiziere auch nicht zu Arbeitsleistungen herangezogen. Ausnahmen bildeten Arbeiten, die zur Verbesserung und Ausbau des Lagers dienten. Wir erhielten sogar einen monatlichen Sold, und zwar in der Höhe, wie ein russischer Offizier des gleichen Dienstranges. Es hat uns sehr überrascht, daß in diesem Land der klassenlosen Gesellschaft unterschiedliche Verpflegungssätze bestanden. Je höher der Rang, desto besser die Verpflegung. Daß die Entlohnung sich nach dem Rang richtet, ist ja verständlich und normal. Als Leutnant erhielt 10 Rubel. Das ist zwar vielleicht genug, um sich Waren zu staatlich geregelten Preisen zu kaufen, falls es diese in den staatlichen Läden gab. Dazu hatten wir jedoch keinen Zugang. Wir konnten nur auf dem offiziell erlaubten grauen Markt einkaufen. Dort bekam man zum Beispiel für 10 Rubel 2 Eier.

Was die Verpflegung betrifft, so erhielten wir jeden morgen 600 g.Brot, und zwar 400g. Schwarzbrot und 200 g. Weißbrot, dazu 40 g. Butter und 10 g. Zucker. Zu Mittag gab es ein Schöpflöffel Suppe eine Portion Kascha und am Abend wieder 1 Schöpflöffel Suppe. An warmen Mahlzeiten insgesamt 1000 Kalorien pro Tag. Die Menge der Speisen richtete sich nach den darin enthaltenen Kalorien. Wenn es Erbsen gab, die einen hohen Kalorienanteil hatten, war es nur ein kleiner Schöpflöffel, der natürlich den Hunger nicht stillte. Wir zogen daher Speisen mit niedrigeren Kaloriengehalt vor, die eher den Magen füllten. Die Verpflegung war zum Leben durchaus ausreichend, wenn wir auch ständig ein Hungergefühl hatten. Zum Rauchen erhielten wir entweder Papirosi, das sind russische Filterzigaretten oder Machorka. Das ist ein grober Tabak, der nicht aus den Blättern der Tabakpflanzen hergestellt wird, sondern aus den Stengeln. Wegen der grobkörnigen Art dieses Tabaks konnte man die Zigaretten nur aus Zeitungspapier drehen oder man rauchte ihn in einer Pfeife. Diese musste man sich aber selbst schnitzen, was ja zur Genüge praktiziert wurde. Einige produzierten Pfeifen und tauschten sie gegen Lebensmittel ein. Da es keine Streichhölzer gab, verschaffte man sich einen Docht, einen Feuerstein und ein Stück Eisen als Feuerzeugersatz. Mit dem Eisen wurde der Feuerstein so lange geschlagen, bis ein Funke auf den Docht fiel, der dann durch rasches Blasen zu einer Glut angefacht werden konnte. Nichtraucher und solche, die das Rauchen leicht entbehren konnten, besaßen in den Zigaretten und dem Tabak eine willkommene Lagerwährung, mit der sie zusätzliche Lebensmittel von anderen Kameraden eintauschen konnten. Es hat sich gezeigt, daß starke Raucher lieber auf Essen als auf Rauchen verzichten können. Die Versorgung klappte manchmal nicht regelmäßig. Oft mußten wir Tage warten, bis die Rauchwaren eintrafen. Aber wir erhielten dann nachträglich alles auf einmal für die ausgefallenen Tage.

Später wurde auch ein Basar eröffnet, wo wir für unseren Rubellohn einkaufen konnten. Wenn es jedoch einmal brauchbare Sachen gab, wie Bleistift, Radiergummi oder Papier, waren diese Artikel so rasch vergriffen, daß man nur mit Glück etwas erstehen konnte. Übrig blieb nur Plunder, für den jede Kopeke zu schade war.

Eine Abwechslung waren Geburtstage unter befreundeten Gefangenen. Wenn so ein Tag bevorstand, wurde von der Frühstücksportion etwas Butter, Zucker und Brot eingesammelt und daraus eine Brottorte gemacht. Butter und Zucker wurden zu einer Buttercreme verrührt. Die Brottorte wurde quer in der Mitte aufgeschnitten, mit einer Lage Buttercreme bestrichen, wieder zugedeckt und die Oberfläche ebenfalls mit Buttercreme bestrichen. Dann wurde das Geburtstagskind gefeiert, ein gemeinsames Frühstück eingenommen und bei dieser Gelegenheit die Torte aufgeschnitten und mit Genuß gemeinsam verzehrt.

Schlecht war es, wenn jemand seine Rationen nicht regelmäßig konsumierte, sondern sie zum Teil aufbewahrte, um dann einmal durch Verzehren einer größeren Menge satt zu werden. Aufgesparte Lebensmittel konnte man nur auf dem Bord verstecken, das über dem Kopfteil auf jeder Pritsche angebracht war. Da gab es manchmal ein übles Erwachen, wenn die durch Selbstbeherrschung aufgesparten Lebensmittel gestohlen waren. So ein Diebstahl unter Kameraden war eine ganz üble Sache und wurde schwer verurteilt. Allerdings nicht von der Lagerleitung, denn die kümmerte sich um derartige Fälle nicht. Wir mußten also Selbstjustiz üben, um so eine Diebstahl zu bestrafen, damit andere abgeschreckt werden. Das ging so vor sich. In der Nacht, wenn alle schliefen, wurde dem Dieb, falls er erwischt wurde, eine Decke um den Kopf geworfen, darin eingewickelt, damit er sich nicht bewegen kann und von allen Seiten mit den Fäusten auf ihn eingedroschen. Das Geschrei des Delinquenten erhöhte natürlich die abschreckende Wirkung.

Im Lazarett waren neben russischen Ärzten und Ärztinnen auch deutsche Ärzte tätig. Darunter der Wiener Internist Dr. Albrecht. Es blieben nur wenige Ärzte in Grjasowez, da die anderen Kriegsgefangenen Ärzte auf andere Lager verteilt wurden. Die Patienten wurden von einer eigenen Lazarettküche verpflegt. Obwohl es etliche gab, die in den Genuß dieser Verpflegung kommen wollten, mußte man schon wirklich sehr krank sein, um im Lazarett aufgenommen zu werden. Ich hatte nur einmal das zweifelhafte Vergnügen das Lazarett von Innen kennenzulernen. Ich nahm teil an einem Französischkurs, der in einem Saal im alten Kloster stattfand. Dort nahm ich auf einer Bank Platz und lehnte mich an einem dort befindliche Backsteinofen. Ein anderer Teilnehmer wollte auf den Ofen klettern, um von dort dem Unterricht folgen zu können. Er sprang von einer oberen Pritsche auf die Ofendecke und trat dabei einen Ziegel ab. Es war kein Ziegel in der Größe unserer genormten Tonziegel, sondern ein wesentlich größerer Backsteinziegel. Dieser fiel gerade auf meinen Kopf. Zu meinem Glück jedoch mit der breiten Seite und brach in der Mitte auseinander. Ich erlitt eine Platzwunde am Hinterkopf und blutete wie ein Schwein. Die einzige Reaktion war ein lauter völlig unnützer Ruf eines Kameraden nach dem Sanitäter. Er hat vergessen, daß wir ja nicht mehr im Felde waren, sondern in einem geschlossenen Raum, wo es keinen Sanitäter gab. Ich war kurz benommen, aber noch bei Sinnen und ging sofort ins Lazarett. Dort wurde ich gleich versorgt. Die Haare rund um die Platzwunde wurden abrasiert und die Wunde selbst genäht. Am nächsten Tag wurde ich bereits entlassen, so daß ich nur einen Tag in den Genuß der Lazarettverpflegung gekommen bin.


Lagerbetriebe und Arbeitseinsätze

Seit Gründung bis zur Auflösung des Lagers wurde es von den Kriegsgefangenen derart um- und neu aufgebaut, daß man dieses Lager fast als Musterlager bezeichnen kann. Es befanden sich ja unter den 4000 Offizieren ja alle Spezialisten, wie Architekten, Baumeister, Ingenieure und Professionisten für jedes Fachgebiet darunter. Als Kernstück an Neubauten ist die Küche und der große Speisesaal zu erwähnen. Darin war nicht nur ein großer langer Tisch, hinter dem die Speisen ausgegeben wurden, sondern es wurden ganz neue Holztische und Bänke gezimmert, die das Speisen daran zu einem angenehmen Ereignis machten. Holz gab es ja in diesem Lande zur Genüge. Dieser Speisesaal konnte auch umfunktioniert und als Kirche verwendet werden. So fand hier das unvergeßliche Hochamt zu Ostern 1945 statt, das unter dem Kapitel "Gottesdienst" beschrieben ist.

Weiters wurde ein Hochbehälter für Wasser eingerichtet und eine Wasserleitung für die Küche, die Bäckerei und die Wäscherei gebaut. Oberleutnant HINTZE, der Leiter der Wäscherei, baute diese mit Hilfe von Oberleutnant RUPPEL; von Zivilberuf Stadtbaumeister aus Gießen, total um. Auch ein Trockenraum wurde errichtet und für die Wäscher eine freundliche "Klause". Hier hat sich ein nettes Gemeinschaftsleben entwickelt. Es fanden Vorträge, Dichterlesungen und musikalische Veranstaltungen statt.

Auch die Banja wurde menschenwürdig restauriert. Sie stand unter der Leitung von Oberst GRAF, des erfolgreichen Jagdfliegers und Ritterkreuzträgers.

Weitere Lagerbetriebe waren die Schuhmacherei, die Schneiderei, der Friseursalon, alles Betriebe, in denen die Gefangenen gerne arbeiteten, da sie dadurch beschäftigt waren und die Trostlosigkeit des Lagerlebens vergaßen. Das Schlimmste an der russischen Gefangenschaft war - neben dem latenten Hungergefühl, den manchmal schwierigen Lebensverhältnissen und dem politischen Druck - die UNGEWISSHEIT über den Zeitpunkt unserer Entlassung. Wir waren schon soweit, einen Zuchthäusler zu beneiden, denn dieser weiß, wann seine Strafe verbüßt ist. Wir wurden darüber im Unklaren gelassen. Ein russischer Offizier sagte einmal zynisch: "Alle werden heimkehren. Die einen früher, die anderen später. Vor allem die, denen wir trauen können, kommen früher heim. Auch die anderen, welche die politische Entwicklung stören können, werden heimkehren, nur später".

Außer den Arbeiten im Lager gab es auch Arbeitseinsätze außerhalb des Lagers. Diese waren allerdings auf freiwilliger Basis, da ja Offiziere nicht zur Arbeit herangezogen werden durften.

Da aber solche Einsätze nicht nur willkommene Abwechslung des oft eintönigen Lagerlebens brachte, sondern auch interessanten Kontakt mit der Zivilbevölkerung fanden sich immer Freiwillige. Außerdem gab es draußen manchmal etwas zu essen und man konnte evtl. Milch oder Eier einkaufen oder eintauschen. Das erste Arbeitskommando arbeitete in der Flachsfabrik. Es mußte Flachsbündel zu den Maschinen transportieren. Ein größeres Arbeitskommando wurde nach Panowka, etwa 200km nördlich von Grjasowez, zum Holzschlag abgestellt. Im Sommer 1946 wurde an der Autostraße Wologda - Moskau gearbeitet. Das Teilstück Grjasowez bis Basargino-Rostylowo wurde von Kriegsgefangenen gebaut. Deutsche Ingenieure planten in Zusammenarbeit mit russischen Ingenieuren einen großen Brückenbau über das Flüßchen Nurma bei Rostylowo. Als in der obenerwähnten Flachsfabrik der Kamin einstürzte wurde im Herbst 1946 dieser Kamin von deutschen Ingenieuren wieder aufgestellt.

In den Kolchosen fiel immer wieder Arbeit an, für die Arbeitskräfte gesucht wurden. Ein solches Arbeitskommando wurde einmal Zeuge von unglaublicher Korruption und Schlamperei. Der Führer dieses Kommandos, der deutsche Major und Ritterkreuzträger Gerd GROSSE aus Würzburg, meldete dies Oberst Syrma mit dem Erfolg, daß sofort das ganze Kommando wieder ins Lager zurück gerufen wurde. Es fanden Vernehmungen durch Gerichtsoffiziere statt. Als nach acht Tagen das Kommando wieder ausrückte, war der Direktor der Kolchose verschwunden. Er wurde bei Nacht und Nebel verhaftet und zu Zwangsarbeit verurteilt.

Ein weiteres Arbeitskommando ging in die Brauerei nach Wologda. Zu diesem Kommando gehörte auch Oberleutnant MEHNERT. Er war ein hervorragender Schachspieler. Tatsächlich spielte er nur Schach mit dem Brauereidirektor, der Gebietsmeister von Wologda war. Dieser hatte Herrn Mehnert bei einer Simultanpartie im Lager entdeckt. Er hatte an 24 Brettern gespielt und nur gegen Herrn Mehnert verloren. Der Stabsapotheker Dr. SCHREBER brachte eine stillgelegte Vitaminfabrik in Wologda wieder in Gang. Der Sportlehrer Oberleutnant UMMINGER trainierte den Fußballklub Dynamo Wologda mit gutem Erfolg.

Einmal wurde mit großer Geheimhaltung ein Kommando von 30 Mann zusammen gestellt. Die deutsche Lagerleitung wußte offensichtlich, um welche Arbeit es sich handelt und was den Teilnehmern bevorsteht. Unter welchen Kriterien die Leute ausgesucht wurden, kann ich nicht sagen. Auf irgendwelche Art waren sie wahrscheinlich bevorzugt. Anfang 1946 wurde dieses Kommando durch die 30 Österreicher, die sich noch im Lager befanden, abgelöst. Ich habe daher dieses Kommando kennengelernt. Ich verlebte dort die beste Zeit der Gefangenschaft. Darüber werde ich jedoch in einem eigenen Kapitel unter dem Titel "Basa 83" berichten.


Die Lagerbibliothek

Die Bibliothek wäre natürlich für uns sehr interessant gewesen, da wir ja genügend Zeit zum Lesen hatten. Ursprünglich gab es aber nur Bücher politischer Art. Von Politik wollten wir aber in der Gefangenschaft nichts hören. Nach und nach wurde die Bibliothek erweitert. Es kamen Schulbücher für Wolgadeutsche Kinder hinzu, und zwar für Mathematik, Physik und Geographie. Das war auch nicht gerade die Literatur, die wir uns wünschten. Besser waren dann schon Übersetzungen von russischen Schriftstellern, von Gogol, Turgenjew und Gorki. 1946 fand eine weitere Vergrößerung statt. Die Bibliothek wurde mit Werken deutscher Emigranten aufgefüllt, und zwar von J.R.Becher u.a. Sowie neuere sowjetische Literatur von Simonow und Fadejew. Allerdings gab es keinerlei russische Grammatik. Jedoch Wörterbücher und ein zweibändiges Lexikon. Dieses gab allerdings ein politisch verläßlicher Herr nicht aus den Händen und wurde nur in kleinsten politischen Kreisen verwendet. Der Grund war der, daß es sehr nationalsozialistisch war und Stichworte wie Ariertum, Rassenpolitik, Weltjudentum und andere nationalsozialistisch besetze Worte enthielt. In der städtischen Bibliothek in Wologda gab es eine Abteilung mit deutscher Literatur. Von dort wurden manchmal Bücher besorgt. Unter diesen Büchern befand sich auch ein Lessingband, erschienen im Jahre 1772. Ein echtes bibliophiles Werk. Auch ein Band mit Schillers gesammelten Werken, der um etwa 1840 erschienen war. Dieser stand vor allem der Schauspielergruppe zur Verfügung.

Die politischen Werke, die am wenigsten gelesen wurden, blieben jedoch an erster Stelle. Das Verhältnis zwischen kommunistischer Literatur und Belletristik war jedoch so sehr zu Lasten letzterer verteilt, so daß ein normal Sterblicher nie die Chance hatte, zu einem anständigen Buch zu kommen. Es gab zwar einige gute deutsche Bücher, die wurden jedoch nur unter der Hand weitergegeben. In unseren Reihen kreisten nur die sogenannten Birkenrinden Broschüren, in welche die damals hoch im Kurs befindlichen lyrischen Gedichte von Eichendorf, Brentano, Rilke etc. von literarisch gebildeten Kameraden aus dem Kopf niedergeschrieben worden sind.


Kulturelle Tätigkeit im Lager

Unter den 4000 Insassen des Lagers gab es natürlich eine Reihe hervorragender Musiker. Es war daher nicht schwer, eine Lagerkapelle zusammenzustellen. Die musikalischen Anfänge waren sehr bescheiden, da zwar ausgezeichnete Spieler aber nur sehr wenige Musikinstrumente zur Verfügung standen. Unser Politbetreuer, der russische Hauptmann Klingbeil hat sich persönlich sehr engagiert, um eine Kapelle zusammen zu bringen. Der musikalische Leiter war Leutnant Hans Carste. Herr Klingbeil ist selbst öfter nach Moskau gefahren, um in Abstimmung mit Herrn Carste die fehlenden Musikinstrumente dort einzukaufen. So entstand bald ein beachtliches Orchester. Carste war allen nicht nur bekannt als Kapellmeister des Rundfunksenders Rias Berlin, sondern auch als Filmmusiker. Er hatte etwa 20 Filme vertont und bekannte Schlager der Dreißiger Jahre komponiert. Zum Beispiel "Küß mich, bitte, bitte, küß mich" oder "Peter, Peter, wo warst du heue Nacht". Auch das Soldatenlied "Lebe wohl, du kleine Monika" stammt von ihm.

Er war auch ein sehr guter Pianist und gab dem musikalischen Leben im Lager neuen Auftrieb Er schuf im Lager auch eine Reihe neuer Werke. Besonders angesprochen wurden die Kriegsgefangenen durch das Abendlied "Gute Nacht", das uns sehr zu Herzen gegangen ist. Es war wirklich ein Meisterwerk Carstens. So empfanden wir es zumindest.. Er fuhr mehrmals selbst nach Moskau und beschaffte ein Instrument nach dem anderen bis eine vollständige Kapelle zur Verfügung stand. Musiker für Streich- und Blasinstrumente waren reichlich vorhanden. Mehrere Konzertgeiger Pianisten und Gitarremeister.

Unter der Leitung des österreichischen Kapellmeisters HAWEL bildete sich auch ein großer Lagerchor. An Sonntagen fanden im Winter oft im Speisesaal im Steinhaus sehr eindrucksvolle Feierstunden statt. Es bildetet sich noch ein Sextett für Chansons und Schlager. Auch die Schauspielkunst begann sich zu entwickeln, als die ersten Berufsschauspieler im Lager eintrafen.

Das erste Theaterstück war im Winter 1944/45 "Die Räuber" von Schiller. Inszeniert hat sie Lt. Klaus SCHRADER. Nach seiner Heimkehr war er u.a. Theaterintendant in Würzburg und Goslar. Später wurden noch folgenden Stücke aufgeführt: "Der Revisor" von Gogol, "Faust I" von Goethe, "Macbeth" (Schiller nach Shakespeare), "Professor Mamlock" (Wolff), "Die rote Nelke" (Singspiel von Hans Carste), "Die tote Tante" (K. Goetz) und andere mehr.

In diesem Lager wurde wirklich so viel geboten, daß wir es bedauerten, als wir eines Tages für ein Arbeitskommando vorgesehen waren, das außerhalb des Lagers tätig sein sollte. Davon werde ich aber, wie schon erwähnt, in einem eigenem Kapitel unter dem Titel "Base 83" berichten.


Das Klima in der Taiga

Das Klima in dieser Gegend war rauh, aber gesund. Im Jänner/Februar gab es eiskalte Nächte bei klarem Himmel. Die Temperatur sank oft auf minus 40 Grad Celsius. Die tiefste Temperatur wurde zu Weihnachten 1945 mit minus 53 Grad erreicht. Am Himmel gab es oft Nordlichter und Halo Erscheinungen. So erlebt ich dort das schönste Nordlicht, das ich je gesehen habe. Es war während der Rückfahrt von einem Arbeitseinsatz um ca. 22 Uhr. Müde saßen wir mit dem Rücken an der Bordwand eines LKW lehnend und sahen in den Himmel, als sich dieser in verschiedenen Farben zu erhellen begann. Wir waren fasziniert von der Farbenpracht, die sich uns darbot. In allen Farben des Regenbogens wölbte sich das Firmament über uns. Das Licht war so stark, daß es nicht nur am Nordhimmel zu sehen war, sondern sich über den Zenit weit bis zur Hälfte des Südhimmels ausdehnte. Die Farben änderten sich ständig. Wellenförmig breiteten sie sich über den ganzen Himmel aus. Ein derart großartiges Nordlicht ist wohl auch in dieser Gegend im Norden Europas eine Seltenheit. Als wir zu diesem Arbeitskommando eingeteilt wurden, waren wir wenig erfreut. Nachher schätzten wir uns glücklich, daß wir dieses so seltene Naturereignis nicht verschlafen haben, sondern es auch während der langen LKW Fahrt intensiv bewundern konnten.

Im März setzten Schneestürme ein. Der Schnee war aber schon sehr feucht und begann gleich abzutauen. Um die erste Aprilhälfte begann das Tauwetter. Überschwemmungen mit Eisgang und Hochwasser traten auf. Der Frühlingsanfang war im Durchschnitt ca. Mitte Mai. Innerhalb kurzer Zeit stand alles in Blüte. Der Sommer war meist heiß und sonnig, aber Nachtfröste konnten sogar im Juni/Juli Schäden anrichten. Eine große Plage waren die Stechmückenschwärme im Juni, die vor allem die Holzkommandos überfielen. Die Regenperiode begann im August. Zu dieser Zeit setzten die ersten größeren Regenfälle ein. Mitte September begann sich das Laub zu verfärben. Ende September setzten die ersten Fröste ein und gegen Mitte November fiel gewöhnlich der erste Schnee. Zur Zeit der Jahrestage der Oktoberrevolution vom 5. Bis 8. November gab es regelmäßig Tauwetter und Regen. Dann begann der Dauerfrost. In der zweiten Hälfte November froren die Flüsse und in der ersten Hälfte Dezember gab es meist starke Schneestürme. Unterbrochen von kurzen, aber sehr intensiven Frostperioden. Um die Weihnachtszeit lag der Schnee schon 1 Meter hoch. Bei der schon erwähnten tiefsten Temperatur zu Weihnachten 1945 handelte es sich um einen Einbruch extrem kalter Sibirischer Polarluft, der am 18.12. begann und etwa bis zum 26.12. dauerte. Im Radio wurde die Bevölkerung zur Vorsorge aufgerufen.

Die riesigen Wälder in dieser Gegend waren teils Nadelwälder (Fichten bzw. an trockenen Stellen Kiefern) teils Laubwälder. Eichen und Buchen kamen hier nicht mehr vor, dafür Birken und Balsampappeln sowie Weidenarten. Auch Obstbäume sucht man hier vergebens. Die Wälder sind zum Teil sehr sumpfig und reich an Beeren und Pilzen. Pilze sind hier Volksnahrungsmittel.


Die Lageruniversität

Als das Lager im Sommer 1944 voll belegt war, kann man sagen, daß mit 4000 Offizieren, die aus allen Teilen des öffentlichen und privaten Leben kamen, eine vielseitige deutsche Intelligenz auf einem relativ engen Platz versammelt war. Es trafen sich dort Pädagogen, vom Volksschullehrer bis zum Universitätsprofessor, Wissenschaftler aus den verschiedensten Richtungen, leitende Angestellte und Unternehmer aus diversen Wirtschaftszweigen, so wie Spezialisten in allen möglichen Fachgebieten. Last not least katholische und evangelische Geistliche in verschiedenen Rangstufen. Ferner befanden sich viele Künstler aus den verschiedensten Gebieten unter uns. Nachdem sich alle im Lager mehr oder weniger gut eingelebt hatten, begann jeder sich irgendeine Beschäftigung zu suchen. Die Lagerleitung rief alle, die sich dazu berufen fühlten auf, ihr Wissen durch entsprechende Vorträge bzw. durch Unterricht über die verschiedensten Gebiete an jeweilige Interessenten weiterzugeben. In den verschiedenen Baracken wurden Fachvorträge gehalten, so daß jeder die Möglichkeit hatte, such auszusuchen, was ihm interessiert. So erschien jeden Tag auf dem schwarzen Brett eine Liste, welche Vorträge bzw. welche Unterrichtsstunden in den einzelnen Baracken gehalten wurden. Es gab Lehrkräfte für die verschiedensten Sprachen, die parallel in verschiedenen Baracken gelehrt wurden. Es gab auch Kurse für Betriebswirtschaft und Buchhaltung und anderen Gegenstände und jeder konnte sich aussuchen, an welchem Kurs er teilnehmen möchte. Ich habe die Kurse für Französisch und Buchhaltung besucht. Ein großes Problem war für uns das Fehlen von Schreibmaterial. Wenn man sich auch einen Bleistiftstummel für Tabak oder eine Portion Zucker einhandeln konnte, so fehlte doch Papier. Findige Leute haben es fertig gebracht, aus abgeschälter Birkenrinde Notizbücher zu machen und diese gegen Zigaretten, Tabak oder Brot einzutauschen. Fehlendes Handwerkzeug wurde aus den primitivsten Mitteln geschaffen. Durch Breitschlagen von Nägeln wurden Messer hergestellt, die dann zum Schnitzen verwendet werden konnten. Es entstanden Kunstwerke der verschiedensten Art. Einer schnitzte einen Herrgott. Ein anderer verfertigte eine Violine. Wieder andere schnitzten Schachfiguren. Diese waren am meisten begehrt, da Schachspielen der beliebteste Zeitvertreib im Lager war. Die Figuren waren allerdings, vom künstlerischen Standpunkt aus gesehen, sehr unterschiedlich zu beurteilen.

Ein anderes Meisterwerk war eine Turmuhr. Ein Uhrmachermeister hat mit Gehilfen am Steinhaus des ehemaligen Klosters diese Uhr an der Seite angebracht, welche die Lagerstraße abschloß, so daß sie vom ganzen Lager aus gesehen werden konnte. Das war ein großer Fortschritt für alle Lagerinsassen. Wurde doch fast allen bei der Gefangennahme die Uhren abgenommen.

Aus dem goldenen Messingblech der Oscar Meier Büchsen hatte ein Künstler einen Kelch erzeugt, der dann bei den Gottesdiensten mit Wein gefüllt bei der Wandlung Verwendung fand. Die Oscar Meier Büchsen stammten aus Amerika von der Firma Oscar Meier und enthielten 5 kg Butter, die im Rahmen des Pacht und Leihgesetzes während des Krieges von Amerika nach Archangelsk verschifft und den Russen geliefert worden sind. Aus diesem Blech wurden auch andere sakrale Gegenstände erzeugt, wie z.B. die Hostienschalen und ein Weihrauchkessel.

So wurden noch ein Reihe andere Gebrauchsgegenstände von den Gefangenen hergestellt, die dann alle eines Tages von unserem Lagerältesten, Herrn Dr. Schumann, gesammelt und in einem Zimmer im alten Kloster ausgestellt worden sind. In diese Ausstellung wurde dann Oberst Syrma eingeladen, der mit seinem ganzen russischem Offizierskorps und ihren Damen kamen, um alle diese Werke, die ja zum Teil künstlerisch wertvoll waren, zu besichtigen. Die Besucher waren äußerst beeindruckt. Das Staunen über die teilweise hervorragenden Kunstwerke nahm keine Ende. Oberst Syrma, der ja wußte, daß wir keine oder nur sehr mangelhafte Hilfsmittel zur Verfügung hatten, machte aus seiner Verwunderung keinen Hehl und sah sich zu den seinerzeit nach dem ersten Weltkrieg berühmten Ausspruch veranlaßt: "Ihr Deutschen macht aus Pappendeckel Kanonen".


Gottesdienst

Obwohl der Atheismus durch den dialektischen Materialismus zur bolschewistischen Ideologie gehört, wurden Gottesdienste im Lager nicht nur gestattet, sondern sogar gefördert, und zwar sowohl katholische als auch evangelische. Anfangs fanden sie immer in einer bescheidenen Form statt. Ein Tisch, der allerdings mit einem weißen Tischtuch überzogen war, diente als Altar. Darauf stand ein einfaches Holzkreuz . Der Pfarrer war in seiner normalen Wehrmachtsuniform gekleidet. Als Hostien dienten im Karree geschnittene kleine Weißbrotstücke. Weißbrot gehörte ja zur täglichen Verpflegung. Wir erhielten jeden Morgen 600 Gramm Brot, davon 400 gr Schwarzbrot und 200 gr. Weißbrot. Etwas Butter und etwas Zucker. Je länger wir im Lager waren, desto mehr Utensilien wurden geschaffen, die es ermöglichten den Gottesdienst in immer feierlicher Form zu gestalten. In der Lagerschneiderei wurden Meßgewänder genäht und mangels Weihrauch wurde das Harz der Balsampappel verwendet, das ähnlich duftete und sich für unsere Nasen vom echten Weihrauch nicht unterschied. Der Meßwein wurde vom Priester aus Rosinen hergestellt, da ihm die von den Russen angebotenen russischen Weine nicht genug naturrein waren. Diese Vorbereitungen wurden schon alle in der Absicht getroffen, zu Ostern 1945 ein großes Hochamt zu feiern. In dem neu errichteten Speisehaus sollte das Fest stattfinden. Mit Unterstützung der Lagerleitung wurden alle Vorbereitungen für einen reibungslosen Ablauf des Gottesdienstes getroffen, der ein ökumenischer werden sollte. Als wir Lagerinsassen die Lagerstraße entlang gingen, um an der Messe teilzunehmen, ahnten wir noch alle nicht, daß dieses Hochamt für uns ein einmaliges Erlebnis werden wird, das wir in unserem Leben nie vergessen werden. Die Speisetische und die Bänke waren beiseite geräumt, so daß genügend Platz vorhanden war, um alle Teilnehmer zu erfassen. Auf der Vorderseite war ein Tisch aufgestellt, weiß gedeckt, und als Altar hergerichtet. In der Mitte stand der schon erwähnte, von einem Künstler hergestellte goldene Kelch. Nun kamen die Geistlichen, sowohl der katholische als auch der evangelische mit den Ministranten, alle in neuen Meßgewändern gekleidet. Auf der Seite hat der Lagerchor Platz genommen, der die Schubertmesse vorbereitet hatte. Als die Ministranten den Weihrauchkessel in Tätigkeit setzten, waren wir überrascht über den Geruch der Balsampappeln, der sich kaum vom echten Weihrauch unterschied. Zu dieser Zeit ging der Krieg bereits seinem Ende zu. Wien war schon besetzt und die Kriegsereignisse waren in diesem Teil der Front vorüber. Es konnte nur noch Tage dauern bis auch in den anderen Teilen Deutschlands die Waffen schweigen. Der Geistliche hat in seiner Predigt auch auf diese Situation Bezug genommen und uns, unseren seelischen Zustand berücksichtigend, Hoffnung gegeben, daß wir nunmehr bald in unsere Heimat und zu unseren Angehörigen zurückkommen werden. Ich dachte an meine Eltern und Geschwister, von denen ich ja seit über einem Jahr nichts mehr wußte und auch daran, daß ich ja auch für sie seit dieser Zeit als verschollen galt.

Ich muß gestehen, daß diese Messe mir sehr viel gab und mir so schwer ums Herz wurde, daß ich beim Kommunionsempfang mit den Tränen kämpfte. Für dieses Osterfest hat die Bäckerei sogar Oblaten gebacken, so daß es wirklich nichts gab was uns an ein Provisorium erinnerte. Nach dem Hochamt wurden die Tische und Bänke wieder aufgestellt und die "Kirche" wieder in einen Speisesaal verwandelt. Die Köche haben sich an diesem Tage besonders angestrengt und uns ein Festessen bereitet, so daß wir uns in einem freudigen Hochgefühl der Hoffnung befanden, daß die Zeit der Gefangenschaft bald vorüber sein wird. Daß wir noch mehr als 2 Jahre gefangen sein werden, hätten wir uns damals nicht vorstellen können.

Es hat uns sehr gewundert, daß die Russen uns im Lager so freie Hand ließen und wir uns das Lagerleben so einrichten konnten wie wir wollten. Die freie Religionsausübung ist wahrscheinlich auch auf die großzügige Einstellung unserer Lagerleitung zurückzuführen. Ein Beispiel zeigt die (inoffizielle) Einstellung vieler Russen in folgender Episode: Der Unteroffizier Hubert Tombrink, von Beruf katholischer Priester im Münsterland, wurde von Grjasowez ins Lager 7193 nach Sokol versetzt. Dort war er als "Wolni Konvoi" (Hilfswachtposten) tätig. Es war ihm erlaubt, regelmäßige Gottesdienste zu halten. Im Winter 1947 durchlebte er eine schwere innere Krise. Er zweifelte an seiner Berufung. Da wurde er eines Tages zur russischen Lagerleitung gerufen. Ein sehr gut deutsch sprechender Major wollte mit ihm allein sein. "Sie sind Priester?" - fragte er. Als er diese Frage mit ja beantwortete, bat er ihn, weiter Gottesdienste zu halten. "Sagen sie ihren Kameraden, daß es Gott gibt, der hilft und sie heimführt". Nach diesem Gespräch, das noch länger dauerte, hatte Tombrink seine Berufung wieder gefunden. Dieses Ereignis sagt viel über das Seelenleben vieler Russen aus. Dieser Major, immerhin ein Stabsoffizier, konnte es sich nicht erlauben, offiziell mit Herrn Tombrink zu sprechen. Das war der Grund, daß er mit ihm allein sein wollte.

Wir Gefangenen hatten öfter Gelegenheit, das Innenleben der Russen kennenzulernen. Als ich einmal mit einem Kameraden von einer russischen Bäuerin zum Tee in ihr Haus eingeladen wurde, sah ich in einer Zimmerecke unter der Holzdecke ein Arrangement um ein Heiligenbild mit einer Kerze. Solche heiligen Ecken gab es in vielen russischen Häusern. Es war für uns sehr interessant einmal Einblick in das Privatleben in einem Bauernhaus zu haben. Die Hausfrau stellte ihren Samowar und die Teetassen auf den Tisch. Der Samowar war noch ein gutes altes Stück, der mit Holzkohle zu beheizen war. Die Matka gab den russischen Tee in eine Teekanne, füllte dann Wasser aus dem Hahn des Samowars in die Teekanne und stellte diese auf den Samowar um den Tee ziehen zu lassen. Anschließend goß sie den heißen Tee in die bereitgestellten Tassen. Trank aber nicht aus der Tasse sondern goß ihn erst auf den Teller, um diesen dann mit beiden Händen zum Mund zu führen und den nunmehr trinkfähigen Tee zu schlürfen ohne sich den Mund zu verbrennen. Wir fanden diese Methode recht praktisch und folgten ihrem Beispiel.

Kategorie: Erinnerungen von Kriegsgefangenen | Hinzugefügt von: Anatoli
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